<117> gegeben. Wenn man also nur in der Übung der sittlichen Tugenden einig sei, käme es auf das übrige wenig an.

Mein Bonze versicherte mir, er merke, daß ich noch sehr chinesisch sei. „Das will ich zeitlebens bleiben“, erwiderte ich ihm. „Wissen Sie, in unsrem Lande hätten die Bonzen es schlecht, wenn sie so denken wollten wie Sie. Man erlaubt ihnen, Hals, eisen zu tragen und sich so viele Nägel in den Hintern zu stoßen, als es ihnen Spaß macht. Im übrigen mögen sie so grämlich sein, wie sie wollen: sie haben nicht die Macht, einem Sklaven das Leben sauer zu machen, und täten sie es, man zahlte es ihnen gehörig heim.“ Mein Bonze erwiderte mit betrübter Miene, er sähe zu seinem großen Leidwesen, daß wir verdammt würden. Denn es gäbe kein Heil für solche, die die Bonzen nicht blindlings verehrten und nicht gedankenlos alles glaubten, was sie zu sagen beliebten.

Ich weiß nicht, ob das die Privatmeinung des Mannes war, mit dem ich sprach, oder der allgemein befolgte Glaube. Bei der kurzen Zeit, die ich hier verweile, habe ich es noch nicht ermitteln können. Ich bitte Dich demütigst, Dich ein wenig zu gedulden, und Du wirst mit den Berichten Deines Sklaven zufrieden sein.

2. Brief.

Heute war ich im großen Tempel der Christen. Ich werde Dir Dinge verkünden, erhabner Kaiser, die Du nicht für möglich hältst und die ich selbst kaum glauben kann, wiewohl ich sie gesehen habe. In diesem Tempel ist eine große Menge von Altären, und vor jedem Altar sieht ein Bonze. Jeder dieser Bonzen, vor dem das Volk am Boden liegt, macht einen Gott. Sie behaupten aber, so viele Götter sie auch durch Murmeln gewisser Zaubersprüche machten, es sei immer derselbe Gott. Ich wundre mich nicht, daß sie es sagen, aber unbegreiflich ist es, daß das Volk es glaubt. Auf diesem schönen Wege bleiben sie aber nicht stehen. Wenn sie den Gott gemacht haben, essen sie ihn auf. Einen so seltsamen Gottesdienst hätte der große Konfutse lästerlich und anstößig gefunden. Es gibt unter ihnen eine Sekte, die sogenannten Frommen, die verzehren fast täglich den Gott, den sie machen, und halten das für das einzige Mittel, um nach diesem Leben glücklich zu werden. In demselben Tempel sieht auch eine große Zahl von Standbildern, vor denen man Verbeugungen macht und zu denen man betet. Diese stummen Bilder haben eine Stimme im Himmel und legen beim Tien Fürsprache für die ein, die auf Erden ihre diensteifrigsten Höflinge waren. Das alles wird ernstlich geglaubt.

Auf dem Heimweg unterhielt ich mich mit einem verständigen Manne, der meine Verwunderung über alles bemerkte, was ich gesehen, und zu mir sagte: „Sehen Sie nicht ein, daß in jeder Religion etwas sein muß, was dem Volke Eindruck macht?“