<118> Unser Glaube ist auf das Volk zugeschnitten. Man kann nicht zu seinem Verstande sprechen, aber man packt es bei seinen Sinnen. Indem man ihm einen, wenn Sie wollen, übertriebenen Gottesdienst auferlegt, unterwirft man es den Regeln und der Übung in den guten Sitten. Prüfen Sie unsre Moral, und Sie werden es sehen.“ Daraufhin gab er mir ein Buch, das einer seiner Gelehrten verfaßt hatte. Darin fand ich ungefähr das gleiche wie in der Sittenlehre des Konfutse. Ich begann mich mit den Christen auszusöhnen, erkannte, daß man nicht leichthin nach dem Schein urteilen muß, und fiel bald in den andern Gegensatz. „Wenn diese Religion“, so sagte ich mir, „eine so treffliche Moral hat, so sind ihre Bonzen gewiß Muster aller Tugenden, und der große Lama muß ein göttergleicher Mensch sein.“ Von diesen Gedanken erfüllt, erging ich mich abends auf dem Spanischen Platze. Dort begrüßte mich ein Mann, wie man mir sagte, ein Portugiese. Er war sehr überrascht, daß ich ein Chinese war und Reisen machte, und richtete einige Fragen über mein Land an mich, worauf ich ihm nach besten Kräften Bescheid gab. Das veranlaßte mich, ihn auch über sein Land auszufragen. Wie er sagte, wohnte sein König am westlichen Ende von Europa. Sein Reich sei zwar nicht groß, doch hätte er große Besitzungen in Amerika und sei der reichste Fürst, da er seine Einnahmen nicht auszugeben vermöchte. Ich fragte ihn, ob er wie ich reiste, um sich zu belehren, oder aus welchem Grunde er ein so reiches Land verlassen hätte, um hierher zu kommen, wo allein die Tempel prunkvoll seien und nur die Bonzen, die das Gelübde der Armut abgelegt hätten, im Überfluß lebten. „Mein König schickt mich hierher“, sagte er. „Er hat ein Geschäft mit dem großen Lama.“ — „Wohl seines Seelenheils wegen ?“ fragte ich weiter. „Denn ein Bonze hat mir versichert, er hätte ein Pfandrecht auf alle Seelen der Fürsien.“ — „Es handelt sich um sein leibliches Wohl,“ erwiderte der Portugiese, „denn eine abscheuliche Art von Bonzen, die wir haben, trachtete ihm nach dem Leben.“ — „Warum hat er die Bonzen nicht pfählen lassen?“ fragte ich ergrimmt. — „Man pfählt hierzulande keine Geistlichen“, entgegnete jener. „Mein Gebieter vermochte nichts weiter, als sie zu verbannen. Der große Lama hat sie in Schutz genommen, hat ihnen hier eine Freistatt gegeben und belohnt sie für den Königsmord, den sie in Lissabon vollbringen wollten1.“ — „Fürwahr,“ rief ich, „Herr Portugiese, in Ihrem Europa ist alles unbegreiflich. Heute las ich ein Buch Ihrer Sittenlehre, das mich entzückt hat; Ihre Bonzen predigen sie, Ihr großer Lama ist der lebendige Quell, aus dem sie fließt. Wie kann er, das Vorbild aller Tugend, sich derart zum Beschützer eines abscheulichen Verbrechens machen?“ — „Reden Sie nicht so laut“, warnte der Portugiese. „Es gibt hier eine gewisse Inquisition. Die könnte Sie für die dreisten Worte, die Ihnen entschlüpften, bei langsamem Feuer braten lassen. Wollen Sie von dem großen Lama reden, dann nur an einem sichren Orte, wo uns niemand verraten kann.“ Da gedachte ich des Abenteuers mit dem Bock in Konstantinopel und folgte ihm.


1 Vgl. S. 115, Anm. I.