<197> jenes Ehrgefühl besitzen, das in den schönen Zeiten der römischen Republik bei hochherzigen Menschen der fruchtbare Mutterboden wahrhaft heroischer Gesinnungen war. Seit aber die Römer mit der Schlichtheit ihrer Sitten die Unschuld verloren, seit Scipio Karthago besiegt und Mummius Korinth unterworfen hatte1, änderte sich offenbar der Charakter der Welteroberer. Die großen Tugenden wurden selten; mit dem Reichtum der Besiegten kamen alle Lasier nach Rom. Man mußte Geld haben, um die Ämter zu kaufen und das Volk zu besiechen. Es genügte nicht, tugendhaft zu sein, sondern man mußte auch für reich gelten. Der Eigennutz, dies niedrige, verlogene Lasier, ward fast zur allgemeinen Krankheit. Luxus und Verschwendungssucht, das Verlangen, sich durch prunkvolle Einrichtung und erlesene Köche hervorzutun, griff um sich, und der persönliche Vorteil siegte über die Liebe zum Vaterland und zum wahren Ruhme. Seitdem findet man bei den Beratungen des Senats nur noch selten Beispiele der alten Seelengröße, die ihn in den Augen der fremden Völker verehrungswürdig gemacht hatte. Derselbe Senat, der eifersüchtig nach der WeltHerrschaft trachtete, wurde unbedenklich in der Wahl der Mittel, die seinen Machtzuwachs erleichtern konnten. Die Folgen dieses Sittenverfalls zeigten sich in den Kriegen, die die Römer mit König Perseus, mit den Ätoliern, mit Antiochus und schließlich mit Jugurtha führten.

Was damals in Rom eintrat, zeigt sich heutzutage in Europa. Die schlimmen Sitten des Zeitalters sind fast allgemein geworden. Die Privatleute bringen sie in die großen Ämter mit, zu denen sie emporsteigen; sie verwalten die Staatsgeschäfte nach den gleichen Grundsätzen wie ihre persönlichen Angelegenheiten.

Ich glaube, mein Herr, ich habe schon zuviel über einen Gemeinplatz gesprochen. Ich wollte einen Brief schreiben, und nun ist es fast eine Abhandlung geworden. Vielleicht finden Sie den Vergleich mit Cartouche zu stark; immerhin werden Sie zugeben müssen, daß er zutrifft. Ich möchte, daß all die Ehrgeizigen und Selbstsüchtigen, all die Verbreiter der öffentlichen Seuchen, die unseren armen Erdteil so um barmherzig verheeren, wenigstens erfahren, daß ihre Bosheit sie in den Augen der gerechten Nachwelt nicht achtbar machen, daß das Urteil der künftigen Zeiten nicht günstiger lauten wird als das, welches ich auf Ihre Veranlassung kühn ausgesprochen habe.

Das Böse, das diese erlauchten Verbrecher verüben, erreicht mich in meinem stillen Erdenwinkel nicht; all diese tragischen, blutigen Ereignisse sind für mich nur ein Schauspiel. Europa ist für mich bloß eine Zauberlaterne; ich habe kein anderes InMesse als das der Menschlichkeit. Ich wünschte, man setzte dem Mord und Totschlag und all den Greueln, vor denen die Natur schaudert, ein Ziel, und machte sich klar, daß unser armes Geschlecht, das der Tod auf so mancherlei Art bedroht, nicht erst der Bosheit einiger galliger Staatsmänner bedarf, um schneller zum Orkus zu fahren.


1 146 v. Chr.