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Schreiben des Kardinals Richelieu an den König von Preußen191-1
(Oktober 1756)

Elysium, den 15. Oktober 1756.



Majestät!

Seit einiger Zeit ist eine Anzahl Erdenbewohner zu uns gekommen, die uns berichtet haben, welche Erfolge Ew. Majestät über Ihre Feinde errungen haben191-2. In unserem friedlichen Aufenthaltsort ist von nichts die Rede, als von Ihren Siegen. Obwohl die Schatten für die Welt unter dem Monde nicht mehr solche maßlose Anhänglichkeit besitzen wie deren Bewohner, bleiben sie doch der Gesinnung treu, die jeder Staatsbürger haben muß.

Mithin nehme ich, obwohl tot, an den Erfolgen Frankreichs teil. Mein Interesse gilt dem Ruhm eines Staates, den ich ehedem lenkte, und ich empfinde die holde Freude eines Vormunds, der sein ihm anvertrautes Mündel gedeihen sieht. Als guter Franzose also wage ich Ew. Majestät zu Ihren glücklichen Erfolgen zu gratulieren, die der französischen Monarchie so zum Vorteil gereichen. Wie ich sehe, folgen Ew. Majestät meinem Beispiel und weichen nicht von meinen Grundsätzen ab. Sie verlieren Frankreichs wahre Feinde nicht aus den Augen, und indem Sie unbeirrt an der gesunden Politik festhalten, kommen Sie an Heldentaten Gustav Adolf gleich. Ach, wie sehr zolle ich den weisen Maßnahmen Beifall, womit Ew. Majestät den weitgreifenden Plänen des Hauses Österreich Schranken setzen! Sie also legen seiner Begehrlichkeit und Ehrsucht Zügel an! Sie sind, Majestät, der beste Bundesgenosse, den Frankreich je gehabt hat. Mir fehlte zu meinem Glücke nichts, als in Ihrem Zeitalter geboren zu sein.

Seit meinem Tode haben die Dinge sich freilich gründlich verändert! Aber ich weiß über den gegenwärtigen Stand der Geschäfte Bescheid, genau so, als ob ich mit ihnen noch betraut wäre. Durch Kardinal Fleury, dessen liebenswürdiger Schatten in unsere<192> seligen Gefilde hinabgestiegen ist192-1, erfuhr ich, daß die Franche-Comté, Elsaß und Lothringen nun zu Frankreich gehören, und daß das Haus Bourbon in Spanien und in Italien regiert. Wie er mir sagte, ist aus der Asche des Hauses Österreich ein neuer Zweig entsprossen, der tiefe Wurzeln geschlagen und durch die bewundernswerte Ordnung in seinen Finanzen und die Zucht seiner Truppen mehr Kraft gewonnen hat, als er durch die Lostrennung mehrerer Provinzen verlor. Ferner hat Kardinal Fleury mich über das ränkevolle Verhalten dieses neuen Hauses Österreich unterrichtet, das, ebenso ehrgeizig wie das alte, seine Schlingen unter Blumen zu verbergen weiß, das mit Sappen vorgeht, anstatt offen zu stürmen, das seine Feinde einlullt, anstatt sie zu bekämpfen, und das alle möglichen Formen anzunehmen weiß, um die wahre zu verbergen. Diesen Proteus, Majestät, haben Sie wie ein zweiter Herkules gezwungen, seine ursprüngliche Gestalt wieder anzunehmen, und durch Ihre Siege haben Sie dem Überfluten seines Ehrgeizes einen Damm entgegengesetzt.

Wir Bewohner des Elysiums, Majestät, deren leichter Geist alle irdischen Hüllen und alle Erdenschwere der Lebendigen abgestreift hat, wir kennen die Zukunft so gut wie die Gegenwart. Unsere Augen durchschauen jeden Kunstgriff. Mit einem Blick erkennen wir die Wirkungen aus den Ursachen. Daher fielen mir neulich, als ich Europa musterte, die gefährlichen Pläne auf, die das neue Haus Österreich schmiedet. Ich sah, Majestät, daß dies Haus Österreich, oder vielmehr das Haus Lothringen, sich in der Hoffnung wiegt, Ihre Macht zerschmettern zu können, um seinen Despotismus und seineTyrannei in Deutschland aufzurichten, daß es Frankreich seines treusten Verbündeten berauben wollte, um dann mit allen Kräften des Heiligen Römischen Reiches gegen den Allerchristlichsten König vorzugehen. Ich sah, daß Schweden nicht mehr das ist, was es früher war, daß sich auf den Trümmern des Thrones eine grausame, blutdürstige Aristokratie erhebt192-2, und daß folglich mein Vaterland ohne Sie keinen Verbündeten mehr im Norden hätte. Ich sah, daß eine neue Macht, die erst halb der Barbarei entwachsen, aber durch ihre Truppenzahl furchtgebietend ist, eine Macht, die vom Eismeer bis zum Maötischen See192-3 herrscht, mit Hilfe des Deutschen Kaisers die Nachkommen Solimatts und Mohammeds zu Boden zu schlagen vermocht hat192-4. Beugte also Frankreich hier nicht vor, so sähe es sich einem Feinde gegenüber, der mächtiger ist als Karl V., ehrgeiziger als Ferdinand II. und tatkräftiger als Karl VI., einer Macht, die unaufhörlich die Franche-Comté, Elsaß und Lothringen, ja vielleicht auch Flandern, zurückfordern würde und deren weltgreifende Pläne wohl gar auf Vertreibung der Bourbonen aus Italien abzielen. Wie viele Kriege müßten in dieser schicksalsvollen Zukunft entbrennen! Wieviel hochherzige Franzosen müßten, vor der Zeit hingerafft, zu uns herabsteigen in unsere friedlichen Wohnungen! Ihnen, Majestät, war es vorbehalten, so viel Übeln vorzubeugen, unseren Königsthron zu be<193>festigen und die Hydra niederzuschlagen, deren stets neu wachsende Köpfe das Reich der Lilien immerfort bedrohen.

Nach so ruhmvollen Taten, nach einem so langen und glücklichen Leben, wie ich es Ew. Majefiät wünsche, werden Sie in diesen seligen Gefilden Wohnung nehmen, um unsere Huldigungen zu empfangen. Ich hoffe, Ew. Majestät werden dann geruhen, unter Ihrer Umgebung den zu erkennen, der die Ehre hat zu verharren als

Ew. Majestät
untertänigster und aufrichtigster Bewunderer
Armand Jean du Plessis, Kardinal und Herzog von Richelieu.


191-1 In der obigen, an die Franzosen gerichteten Flugschrift geißelt König Friedrich den Umschwung ihrer Politik und ihr Bündnis mit dem auch von Richelieu einst heftig bekämpften Hause Österreich.

191-2 Gemeint ist die Schlacht bei Lobositz vom 1. Oktober 1756.

192-1 Vgl. S. 174, Anm. l;

192-2 Vgl. Bd. III S. 24f. -

192-3 Das Azowsche Meer.

192-4 Vgl. Bb. l, S. 158 ff.