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Die Eigenliebe als Moralprinzip (1770)1

Jugend ist das festeste Band der Gesellschaft und die Quelle der öffentlichen Ruhe. Ohne sie wären die Menschen den wilden Tieren gleich, blutdürstiger als Löwen, grausamer und tückischer als Tiger, oder Ungeheuer, deren Umgang man meiden müßte.

Um die rohen Sitten zu mildern, schufen Gesetzgeber Gesetze, lehrten Weise die Moral, zeigten die Vorteile der Tugend und bewiesen so ihren Wert.

Die philosophischen Schulen des Orients und der Griechen stimmten über das Wesen der Tugend im großen und ganzen überein. Sie unterschieden sich eigentlich nur durch die Wahl der Motive, mit denen sie ihre Schüler zu tugendhaftem Wandel bestimmten. Die Stoiker betonten, ihren Grundsätzen gemäß, die der Tugend innewohnende Schönheit. Daraus schlossen sie, man müsse die Tugend um ihrer selbst willen lieben, und sahen das höchste menschliche Glück im unveränderlichen Besitz der Tugend. Die Platoniker sagten, man nähere sich den unsterblichen Göttern und werde ihnen ähnlich, wenn man nach ihrem Vorbild die Tugend übe. Die Epikuräer schrieben der Erfüllung der sittlichen Pflichten ein höchstes Lustgefühl zu. Wenn man ihre Grundsätze richtig versieht, so fanden sie im Genusse der reinsten Tugend unaussprechliche Glückseligkeit und Wonne. Moses kündigte seinen Juden, um sie zu guten und löblichen Handlungen anzuspornen, zeitlichen Lohn und zeitliche Strafen an. Die christliche Religion, die sich auf den Trümmern des Judentums erhob, schlug die Lasier durch ewige Strafen nieder und ermunterte die Tugend durch Verheißung ewiger Seligkeit. Mit diesen Triebfedern noch nicht zufrieden, wollte sie den größtmöglichen Grad von Vollkommenheit erreichen, indem sie behauptete: allein die Liebe zu Gott solle die Menschen zu guten Handlungen treiben, auch wenn sie in einem andren Leben weder Lohn noch Strafe zu erwarten hätten.

Unstreitig haben die philosophischen Schulen Männer von größtem Verdienst hervorgebracht, und ebenso sind aus dem Schoße des Christentums reine, wahrhaft heilige Seelen hervorgegangen. Trotzdem sind die Philosophen und Theologen erschlafft, und durch die Verderbtheit des menschlichen Herzens ist es soweit gekommen,


1 Die obige Abhandlung wurde am II. Januar 1770 in der Akademie verlesen.