<238> aufmerksamen und eingehenden Blick auf die Fülle seiner geistigen Erzeugnisse. Die Geschichte erzählt, Virgil habe, als er starb, seine „Äneis“ verbrennen wollen, weil er ihr nicht die gewünschte Vollendung hatte geben können. Voltaire konnte bei seinem langen Leben sein Gedicht „La Ligue“ immer wieder feilen und verbessern und ihm die Vollkommenheit geben, die es jetzt unter dem Namen der „Henriade“ erreicht hat1. Seine Neider warfen ihm vor, es sei nur eine Nachahmung der „Äneis“, und man muß einräumen, daß der Gegenstand mancher Gesänge Ähnlichkeiten aufweist. Aber es sind keine sklavischen Kopien. Schildert Virgil die Zerstörung Trojas, so stellt Voltaire die Greuel der Bartholomäusnacht dar. Der Liebe der Dido und des Äneas sieht die Liebe Heinrichs IV. und der schönen Gabrielle d'Estrées gegenüber. Das Hinabsteigen des Äneas in die Unterwelt, wo Anchises ihm seine Nachkommenschaft prophezeit, wird mit Heinrichs IV. Traum und der Weissagung des heiligen Ludwig verglichen, der ihm das Schicksal der Bourbonen verkündet. Wenn ich meine Meinung äußern dürfte, würde ich bei zweien dieser Gesänge den Vorzug dem Franzosen geben, nämlich bei der Schilderung der Bartholomäusnacht und dem Traume Heinrichs IV. Nur in der Liebe der Dido scheint Virgil über Voltaire den Sieg davonzutragen, weil der Lateiner fesselt und zum Herzen spricht, während der Franzose sich nur in Allegorien ergeht. Aber bei ehrlicher Prüfung beider Dichtungen, ohne Vorurteil für die Alten oder Neueren, muß man einräumen, daß viele Einzelheiten der „Äneis“ in den Werken unsrer Zeitgenossen nicht mehr geduldet würden, so z. B. das Totenopfer, das Äneas seinem Vater Anchises darbringt, die Fabel von den Harpyen, die Prophezeiung dieser Fabelwesen, die Trojaner würden noch in solche Not kommen, daß sie ihre Teller essen müßten — eine Prophezeiung, die dann später in Erfüllung geht —, das Mutterschwein mit den neun Frischlingen, das die Stätte bezeichnet, wo Äneas das Ende seiner Mühen finden soll, die Verwandlung seiner Schiffe in Nymphen, der von Askanius erlegte Hirsch, der den Krieg der Trojaner und Rutuler herbeiführt, der Haß gegen Äneas, den die Götter ins Herz der Amata und Lavinia legen, derselben Lavinia, die Äneas am Ende fteit. Vielleicht war Virgil mit diesen Fehlern selbst unzufrieden und wollte deshalb sein Werk verbrennen. Jedenfalls stellen sie nach der Meinung urteilsvoller Kunsirichter die „Äneis“ unter die „Henriade“. Wenn das Verdienst eines Autors in der Überwindung von Schwierigleiten liegt, so ist es sicher, daß Voltaire mehr zu überwinden fand als Virgil. Der Gegenstand der „Henriade“ ist die Unterwerfung von Paris durch die Bekehrung Heinrichs IV. Der Dichter konnte also den Wunderapparat nicht nach Belieben benutzen; er sah sich auf die christlichen Mysterien beschränkt, die weniger reich an lieblichen und malerischen Bildern sind als die Mythologie der Heiden. Gleichwohl kann man bei der Lektüre des X. Gesanges der „Henriade“ nicht umhin, zu gestehen,


1 Vgl. S. 3 ff. und Bd. I I, S. 45.