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Gerade zu der Zeit, wo er alle Kräfte anspannte, um seinen Schmerz zu bezwingen, wurde er an den preußischen Hof berufen. Der König, der ihn im Jahre 1740 gesehen hatte1, wünschte dies hervorragende und seltene Genie zu besitzen. Im Jahre 1750 kam Voltaire nach Berlin2. Seine Kenntnisse waren umfassend, seine Unterhaltung ebenso belehrend wie angenehm, seine Einbildungskraft ebenso glänzend wie vielseitig, sein Geist rasch im Erfassen und stets schlagfertig. Er verschönte die Trockenheit eines Gegenstands durch die Anmut der Darstellung; kurz, er war das Entzücken aller Gesellschaften. Ein unglücklicher Streit, der zwischen ihm und Maupertuis ausbrach3, entzweite diese beiden Geister, die dazu geschaffen waren, sich zu lieben, nicht aber, sich zu hassen4. Der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges erweckte bei Voltaire den Wunsch, seinen Aufenthalt in der Schweiz zu nehmen. Er ging nach Genf, dann nach Lausanne, erwarb später Les Délices5 und ließ sich schließlich in Ferney nieder (1759). Seine Muße war zwischen Studium und Arbeit geteilt. Er las und schrieb und beschäftigte durch die Fruchtbarkeit seines Geistes alle Buchhändler jenes Kantons.

Voltaires Gegenwart, sein sprudelnder Geist, seine mühelose Produktion versetzte seine ganze Umgebung in den Wahn, um ein großer Geist zu sein, brauchte man es nur zu wollen. Eine Art von Epidemie ergriff die Schweizer, die sonst nicht für die feinsten Köpfe gelten. Sie drückten die gewöhnlichsten Dinge nur noch in Antithesen und Epigrammen aus. Genf wurde von dieser Ansteckung am meisten befallen. Die Bürger hielten sich samt und sonders für Lykurge und hatten nicht übel Lust, ihrer Vaterstadt neue Gesetze zu geben, aber keiner wollte den bestehenden gehorchen. Diese Regungen mißverstandenen Freiheitseifers führten zu einer Art Aufruhr oder Krieg, der in die Komödie gehörte. Voltaire verfehlte nicht, das Ereignis unsterblich zu machen; er besang diesen sogenannten Krieg im Tone von Homers Froschmäusekrieg6.

Bald brachte seine fruchtbare Feder Theaterstücke hervor, bald vermischte philosophische und geschichtliche Aufsätze, bald allegorisch-moralische Romane. Aber während er derart die Literatur durch neue Schöpfungen bereicherte, widmete er sich zugleich der Landwirtschaft. Man sieht, wie ein guter Kopf sich auf allen möglichen Gebieten betätigen kann. Ferney war ein fast wüstes Stück Land, als unser Philosoph es erwarb. Er kultivierte es und bevölkerte es nicht allein, sondern siedelte auch viele Handwerker dort an.

Rufen wir uns nicht zu bald die Ursachen unsres Schmerzes ins Gedächtnis zurück. Lassen wir Voltaire noch ruhig in Ferney und werfen wir unterdessen einen


1 Nach der ersten Begegnung mit dem König auf Schloß Moyland bei Kleve (11. September 1740) hatte Voltaire Ende 1742 und dann nochmals 1743 am preußischen Hofe geweilt. Vgl. Bd II, S. 149.

2 Am 10. Juli 1750 traf Voltaire in Potsdam ein.

3 Vgl. S. 227 ff.

4 Voltaire verließ Potsdam am 25. März 1753.

5 Die Übersiedlung nach Les Délices fand schon im Frühjahr 1755 statt.

6 „Der Genfer Bürgerkrieg. Ein Heldengedicht.“ 1767.