<186> Lieber noch gab er denen nach, die Ansprüche an ihn erhoben, als sich vor Gericht zerren zu lassen. Er pflegte zu sagen, es sei viel gewonnen, wenn man zur rechten Zeit nachzugeben wüßte. Ein so hochherziges Benehmen, eine so edle Uneigennützigkeit zogen ihm die Achtung der ganzen Stadt zu. Sicherlich hätte man ihn zugrunde gerichtet, wenn man immerfort Ansprüche an ihn gestellt hätte. Aber seine Nachbarn schonten ihn aus Zartgefühl, und mit Recht fürchtete man, ihn um sein kleines Vermögen zu bringen, wenn man unrechtes Gut von ihm forderte, das er seiner Ruhe geopfert hätte.

Trotzdem schützte ihn dies exemplarische Leben nicht vor dem Neid und allem, was ihm folgt: üble Nachrede, ja oft schwarze Verleumdungen. Ich darf nichts verheimlichen; denn ich habe nur Löbliches zu berichten. Dieser wahrhaft gute Mensch verbrachte, wie wir gesagt haben, sein Leben in der Werkstatt und lag unablässig seiner schweren und ermüdenden Arbeit ob. So bedurfte er denn der Wiederherstellung seiner Kräfte. Er hatte ein Magenleiden, über das er oft klagte. Das zwang ihn, zu seiner Stärkung täglich etliche Flaschen Wein zu trinken, nach dem Rate des Paulus an Timotheum: „Brauche ein wenig Weins um Deines Magens willen.“1 Oft versagten ihm seine ermüdeten Knie des Abends, und da er vor Schwäche bisweilen umfiel, so ließ er sich führen, um dergleichen zu vermeiden. Das genügte seinen Feinden — wer hat deren keine? — um seinen Wandel zu verdachtigen und ihn maßloser Völlerei zu bezichtigen. Jene Arglistigen sagten mit verächtlicher Miene und höhnischem Lachen: „Siehe den heiligen Mann! Siehe das Wunder unsrer Stadt! Wenn er seinen Verstand in Wein ersäuft hat und hinfällt, weil er nicht mehr stehen kann, dann macht er offenbar die Arbeiten, die ihm solche Berühmtheit verschaffen! Sollen die Schuster betrunken sein, um etwas zu leisten? Nun, wenn es so sieht, werden wir ihn bald übertreffen, und man wird alsdann sehen, ob unsre Schuhwaren nicht so beliebt werden wie die seinen.“

Was tat nun unser frommer Handwerksmann, wenn er diese Lügner ihre schändlichen Verleumdungen ausspeien hörte? Er empfahl sie dem Heiland, meine Freunde, und sagte, er danke denen, die ihn demütigten. Er segnete seine Feinde, erflehte Gottes Barmherzigkeit für die, so ihn tadelten und verfolgten. Er fand seinen Trost darin, daß es ihm nicht besser erginge als dem Gerechten, den die gottlosen Juden lästerten, daß auch er das Kreuz des göttlichen Heilands tragen müßte, der seine Seele durch eine schändliche Strafe vom ewigen Verderben erlöst hat. So machte er sich seine Leiden zunutze und errichtete sich auf Kosten seiner Feinde, die ihn zu erniedrigen wähnten, eine himmlische Trophäe, die die menschliche Bosheit nicht zu zerstören vermag. Nie vergalt er Böses mit Bösem. Unbekannt war ihm die schnöde Genugtuung, die verderbte Seelen in der Rache finden, die unheilvolle Freude, Verleumdung und Schmähung mit noch grausamerem Hohn heimzuzahlen, der den


1 I. Epistel an Timotheus V, Vers 23.