<204> vorherrschende Laster und Tugenden wird jedes Volk stets behalten. Wenn also die Römer unter den Antoninen tugendhafter erscheinen als unter Tiberius, so liegt das daran, daß die Verbrechen sirenger bestraft wurden. Das Lasier wagte sein schnödes Haupt nicht zu erheben; aber die Lasterhaften existierten deshalb nicht minder. Der Herrscher kann seinem Volke einen gewissen Bildungsfirnis geben. Er kann die Beobachtung der Gesetze erzwingen und die Wissenschaften auf eine bescheidene Höhe bringen. Aber nie wird er das Wesen der Dinge ändern. Er kann nur der dominierenden Farbe des Gemäldes eine flüchtige Schattierung hinzufügen. Daß es sich so verhält, haben wir in unseren Tagen an Rußland gesehen. Peter I. schnitt seinen Moskowitern ihre Barte ab, befahl ihnen an die Ausgießung des Heiligen Geistes zu glauben, veranlaßte manche, sich nach französischer Mode zu kleiden; ja sie lernten sogar fremde Sprachen. Dennoch wird man die Russen noch lange von den Franzosen, Italienern und anderen Völkern Europas unterscheiden. Einzig die vollständige Zerstörung eines Staatswesens und seine Neubevölkerung mit fremden Ansiedlern könnten nach meinem Dafürhalten den Geist eines Volkes von Grund aus verändern. Aber man sehe sich vor: das wäre dann nicht mehr das gleiche Volk! Und es bliebe noch die Frage offen, ob nicht Klima und Ernährungsweise mit der Zeit die neuen Einwohner den alten ähnlich machen würden.

Wir haben es für nötig gehalten, das Kapitel, das die Sitten der Brandenburger behandelt, von der übrigen Geschichte zu trennen. Denn diese befaßt sich vorwiegend mit Politik und Krieg, und die auf Sitten, Industrie und Künste bezüglichen Einzelheiten würden innerhalb eines ganzen Werkes so verstreut sein, daß sie dem Leser wohl entgangen wären, während er sie hier unter einem einzigen Gesichtspunkt vereinigt findet, wo sie ein Stück Geschichte für sich bilden. Für den Anfang dieser Abhandlung haben mir bei dem gänzlichen Mangel an einheimischen Geschichtsschreibern die lateinischen als Quellen gedient. Lockelius1, den ich oft zu zitieren haben werde, hat mich über die in Dunkel gehüllte Regierungszeit der Markgrafen der ersten vier Dynastien aufgeklärt. Und die Archive haben mir das Material geliefert für das Bemerkenswerteste aus der Geschichte der Kurmark unter den Hohenzollern,die uns bis auf die Gegenwart führt.

I
Sitten und Gebräuche der alten Germanen bis zu Heinrich I.

Bei der langen Aufzählung der Völkerschaften Deutschlands, die Tacitus gibt, irrte er sich hinsichtlich des Wortes Ingevonen, das „Einwohner“ bedeutet. Ebenso über das Wort Germanen, das nichts anderes heißt als „Kriegsmänner“, das er aber in seiner Unkenntnis der Sprache für die Bezeichnung einzelner Stämme nimmt.


1 Vgl. S. 8, Anm. 2.