<241> französischer Schriftsteller. In seinem „Versuch über die Weltgeschichte“1 wechselt der Stil abermals: er ist schlicht und kraftvoll. Seine Geistesart offenbart sich in der Weise, wie er die Geschichte behandelt, besser als in seinen übrigen Schriften. Man merkt darin die Überlegenheit eines Geistes, der alles im großen sieht, sich nur an das Bedeutende hält und die Kleinigkeiten übergeht. Das Werk ist nicht geschrieben, um denen Geschichte zu lehren, die sie nie studiert haben, sondern nur, um die Haupttatsachen denen ins Gedächtnis zu rufen, die sie schon kennen. Er befolgt das oberste Gesetz des Geschichtsschreibers, die Wahrheit zu sagen. Die eingestreuten Betrachtungen sind kein Beiwerk, sondern stehen in engstem Zusammenhang mit dem Stoffe.

Es bleibt uns noch eine Fülle andrer Abhandlungen Voltaires übrig, auf die ein näheres Eingehen fast unmöglich ist. Die einen sind kritischer Natur; in andren klärt er metaphysische Fragen, wieder andre drehen sich um Astronomie, Geschichte, Physik, Redekunst, Poetik und Mathematik. Selbst seine Romane haben einen originellen Zug. „Zadig“, „Micromegas“, „Candide“ sind Schriften, die unter scheinbarer Oberflächlichkeit moralische Allegorien oder Kritiken moderner philosophischer Systeme bergen, wo das Nützliche Hand in Hand mit dem Angenehmen geht.

Diese Fülle von Talenten und verschiedenen Kenntnissen, in einer Person vereint, versetzen den Leser in ein Gemisch von Überraschung und Erstaunen. Gehen Sie das leben aller großen Männer des Altertums durch, deren Name auf uns gekommen ist. Sie werden finden, meine Herren, daß jeder sich auf ein einziges Talent beschränkte. Aristoteles und Plato waren Philosophen, Äschines und Demosthenes Redner, Homer ein Epiker, Sophokles ein Dramatiker. Anakreon pflegte die gefällige Muse; Thukydides und Xenophon waren Geschichtsschreiber. Ebenso waren bei den Römern Virgil, Horaz, Ovid und Lukrez nur Dichter, Livius und Varro2 Geschichtsschreiber, Crassus, der ältere Antonius und Hortensius Redner. Nur Cicero, Konsul und Redner, Verteidiger und Vater des Vaterlandes, hat verschiedene Talente und Kenntnisse in sich vereint. Mit der Macht des Wortes, die ihn über alle seine Zeitgenossen erhob, verband er tiefes Studium der Philosophie, wie man sie zu seiner Zeit kannte. Das zeigt sich in seinen Tuskulanen, in seiner wundervollen Abhandlung „Über die Natur der Götter“, in seiner Schrift „Von den Pflichten“, die vielleicht das beste Moralbuch ist, das wir besitzen. Cicero war sogar Dichter. Er übersetzte die Verse des Aratos3 ins Lateinische, und wie man glaubt, hat er durch seine Verbesserungen das Gedicht des Lukrez4 vervollkommnet.

Wir mußten also den Zeitraum von siebzehn Jahrhunderten durchlaufen, um unter der Fülle der Sterblichen, die das Menschengeschlecht bilden, einen einzigen, Cicero, zu finden, dessen Kenntnisse sich mit denen unsres berühmten Schriftstellers


1 Vgl. S. 236.

2 Vgl. S. 60.

3 Das astronomische Lehrgedicht: Phaenomena.

4 Das Lehrgedicht: De rerum natura