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Brief eines Akademikers in Berlin an einen Akademiker in Paris
(November 1752)227-1

Seit es Gelehrte gibt, gibt es auch gelehrte Streitigkeiten; denn jedermann hat das Recht auf seine eigne Meinung, und jeder glaubt gute Gründe zum Verfechten dieser Meinungen zu haben. Erniedrigend für den menschlichen Geist aber ist neidische Gehässigkeit, sind die Pamphlete und Schmähungen, die rohen Verleumdungen, mit denen kleine Geister das Andenken der Großen zu besudeln suchen.

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Glauben Sie nicht, ich persönlich hätte über dergleichen zu klagen! Mittelmäßige Talente sind gleichsam ein Wall gegen die Angriffe des Neides. Es handelt sich hier um Maupertuis, unsren berühmten Präsidenten. Seine geistige Überlegenheit, sein tiefes Wissen hat die Eigenliebe des Philosophieprofessors König aufgestachelt. Da dieser Mann sich nicht zu seiner Höhe aufzuschwingen vermochte, glaubte er schon viel dadurch erreicht zu haben, daß er ihn herabsetzte. Er stritt unserm Präsidenten die Priorität der Entdeckung des Prinzips der kleinsten Aktion ab und behauptete, Leibniz sei der Erfinder. Maupertuis forderte Beweise. Er wollte wissen, in welchem Werke von Leibniz Spuren dieser Entdeckung zu finden seien. Um sich aus der Verlegenheit zu helfen, veröffentlichte König Bruchstücke aus angeblichen Briefen von Leibniz und behauptete, nicht mehr zu wissen, wo er die Originale gesehen hätte. Dieser literarische Prozeß wurde in einer Sitzung unsrer Akademie verhandelt, und König wurde einstimmig verurteilt.

Der Professor war wütend, daß er widerlegt war, und noch mehr, daß er einem von ganz Europa Bewunderten nicht hatte schaden können. Er begnügte sich nicht mit groben Schmähungen gegen ihn, — dem letzten Hilfsmittel aller, die keine wirklichen Gründe vorzubringen haben — sondern tat sich mit ziemlich verächtlichen Skribenten zusammen, die seine Partei ergriffen und unter seiner Fahne fochten. Einer dieser Elenden ließ unter dem Deckmantel eines Berliner Akademikers ein schändliches Machwerk erscheinen. Darin behandelte er Maupertuis in einer Weise, wie ein urteilsloser Mensch nur von einem Unbekannten reden kann, oder wie die frechsten Betrüger die Tugend zu verleumden pflegen.

Maupertuis ist durch seinen Charakter, seine Verdienste und seinen Ruf zu erhaben über dergleichen Verunglimpfungen, um sich beleidigt zu fühlen. Er denkt zu sehr als Philosoph, als daß bloße Schmähungen seine Seelenruhe stören könnten. Aber wir andren Akademiker müssen uns gegen einen Rasenden erheben, der zwar Maupertuis nicht verletzen, wohl aber das Ansehen unsrer Körperschaft schädigen kann.

Es soll allen Völkern klar vor Augen stehen: unter uns ist kein so entarteter Sohn, daß er den Arm gegen seinen Vater zu erheben wagt, lein Akademiker, der sich zum feilen Söldling der Wut eines Neidischen herabwürdigt. Nein! Wir alle zollen unsrem Präsidenten den Tribut der Bewunderung, der seinem Wissen und seinem Charakter gebührt. Ja, wir wagen ihn zu den unsren zu rechnen und machen ihn Frankreich streitig. Zu seinen Lebzeiten genießt er hier den Ruf, den Homer erst lange nach seinem Tode erwarb. Berlin und St. Malo streiten sich um den Ruhm, seine Vaterstadt zu sein. Wir betrachten sein Verdienst als das unsre. Sein Wissen verleiht unsrer Akademie den höchsten Glanz. Aller Nutzen seiner Werke fällt uns zu. Sein Ansehen ist das der ganzen Körperschaft. Als Charakter ist er das Muster eines Ehrenmannes und eines wahren Philosophen. So denkt die gesamte Akademie!

Wer so redet der Betrug! Der angebliche ungenannte Akademiker behauptet, Maupertuis müßte durch seine schlimmen Praktiken alle unsre Akademiker zum Aus<229>tritt bestimmen, würden sie nicht durch den Schutz des Königs gehalten. Soviel Worte, soviel Falschheiten! Es ist in ganz Preußen und ganz Deutschland bekannt, daß unsre berühmtesten Akademiker durch Maupertuis hierher gezogen wurden, daß er die Einkünfte verwaltet, die erledigten Stellen besetzt, die Preise verteilt, die Talente beschützt, daß er sich in all diesen verschiedenen Verwaltungszweigen stets selbstlos gezeigt hat durch gute Finanzwirtschaft, richtiges Urteil bei der Neubesetzung der erledigten Stellen, Gerechtigkeit bei der Verteilung der Pensionen und Preise, treue Fürsorge für den Ruhm der Akademie, Freundschaft und Treue gegen jeden seiner Kollegen und stete Hilfsbereitschaft für alle, die seines Schutzes bedurften. Wir haben also keinerlei Anlaß, über ihn zu klagen, vielmehr sind die meisten ihm Dank schuldig für unsre Berufung, für seinen Rat und seine Lehre, für seine Einsicht und sein Vorbild.

Der Verfasser der Schmähschrift gegen Maupertuis ist offenbar von den Vorgängen in unsrer Akademie und dem dort herrschenden Geiste sehr schlecht unterrichtet. Nie haben wir Streitigkeiten gehabt; denn nie haben wir dem Parteigeist Zutritt gestattet. Meinungsverschiedenheiten führen bei uns immer nur zu Erörterungen, nie aber zu Streit. Nach unsrer Meinung sieht es den Philosophen an, dem Volte ein Vorbild zu geben. Männer, die ehrlich die Wahrheit suchen, dürfen nicht starrköpfig sein. Weniger von sich selbst eingenommen und in ihre eignen Gedanken vernarrt als die, deren ungebildeter Geist brach liegt, verwenden sie den ganzen Scharfsinn ihres Geistes zur Erforschung der Rätsel der Natur, sind dankbar gegen alle, die sie vor Täuschung bewahren, und voller Bewunderung für die, deren Einsicht ihnen Erleuchtung bringt. Aus diesem Grunde hat man in unsren Versammlungen nie jene für eine gelehrte Körperschaft so erniedrigenden Szenen erlebt, wie den Auftritt in Paris vor einigen Jahren, der den Alterspräsidenten aller europäischen Akademiker so tief verletzt hat.

Unser angeblicher Akademiker hat nicht nur so offenkundige Lügen verbreitet wie die obengenannten. Er ist auf diesem schönen Wege noch weitergegangen. Gleich als ob seine Frechheit in dem Maße zunähme, wie er sein Gift verspritzt, behauptet er dreist, Maupertuis gereiche unsrer Akademie zur Unehre. Darauf war ich nicht gefaßt! Die Alten in ihrer Weisheit bezeichneten Böswillige als Rasende; denn die Bosheit ist eine Art von Delirium und verwirrt den Verstand. Hat jener geistlose Pamphletist, jener verächtliche Feind eines Mannes von seltnem Verdienst, in seiner unfruchtbaren Phantasie keine wahrscheinlichere Verleumdung finden können als eine derartige Unterstellung? Hat er nicht begriffen, daß, wenn schon ein nutz, bringendes Verbrechen empört, ein unnützes Verbrechen der Gipfel der Niedertracht ist? Eine so platte Roheit, eine so aberwitzige Behauptung verdient fürwahr keine Antwort. Wem soll ich es erst sagen und wer wüßte nicht längst, daß Maupertuis in Frankreich unter allen Mathematikern für den Befähigtesten galt, die Wahrheiten über die Erdgestalt, die Newton in seinem Arbeitszimmer geahnt hatte, festzustellen? Er wurde nach Lappland gesandt und trug durch seine geometrischen Berechnungen<230> ebensosehr zu seinem eignen Ruhme bei, wie zu dem des großen Engländers, den er in seiner Bescheidenheit stets als seinen Lehrer ansah. Wem brauchte ich erst zu sagen, daß er, vom König von Frankreich mit Ehren überhäuft, durch unsren König nach Berlin berufen ward, und daß unsre Akademie unter seiner Leitung nach langem Siechtum neues Leben gewann?

Soll ich das Publikum darüber belehren — es weiß ja längst Bescheid! — daß Maupertuis durch seine Mitarbeit auf allen Gebieten mehr als ein andrer von uns zu den Abhandlungen beiträgt, die wir alljährlich veröffentlichen? Wer weiß nicht oder tut, als wüßte er nicht, daß Maupertuis von allen Gelehrten, die seine Werke lasen, bewundert, von uns geliebt und geschätzt, von allen, die mit ihm leben, hochgeehrt, bei Hofe ausgezeichnet und vom König mehr begünstigt wird als irgend ein Gelehrter ?

Ich beklage unsren Präsidenten nicht. Er teilt das Los aller großen Männer: beneidet zu werden und seinen Feinden keine andre Waffe zu lassen, als die Erfindung abgeschmackter Lügen. Zu beklagen sind nur die armseligen Skribenten, die sich kopflos ihren Leidenschaften überlassen und von ihrer Böswilligkeit so verblendet sind, daß sie ihre Gewissenlosigkeit, Schlechtigkeit und Unwissenheit zugleich offenbaren.

Aber welchen Zeitpunkt, glauben Sie wohl, haben diese Leute zum Angriff gegen unsren Präsidenten benutzt? Sicherlich meinen Sie, als ehrliche Kämpfer hätten sie ihn zum Kampfe mit gleichen Waffen herausgefordert. Nein, mein Herr! Ermessen Sie die ganze Feigheit und Nichtswürdigkeit ihres Charakters! Sie wissen, daß Maupertuis zu unsrem Schmerze seit einem halben Jahre brustleidend ist, Blut hustet und häufige Ersiickungsanfälle hat, daß sein Siechtum ihn am Arbeiten hindert, daß er dem Tode näher ist als dem Leben, daß die Tränen einer liebenden Gattin und die Teil, nahme aller redlich Denkenden ihn rühren230-1. Diesen Augenblick wählten sie, um ihm, wie sie glauben, den Dolch in das Herz zu stoßen! Hat man je etwas Boshafteres, Feigeres, Ruchloseres gesehen? Hat man je von einer schändlicheren Räubertat gehört? Wie? Ein berühmter Gelehrter, der in seinen Worten nie einen Menschen gekränkt, der selbst mit der Feder seine Feinde respektiert hat, erfährt in dem Augen, blick, wo er sein Leben aushauchen will, wo ihm wie allen Ehrenmännern nichts bleibt als der Trost, einen wohlbegründeten Ruf zu hinterlassen, — daß man ihn angreift, verfolgt und verleumdet! Man möchte ihn ins Grab bringen mit dem Schmerz und der Verzweiflung darüber, in seinen letzten Stunden der Zuschauer seiner eignen Entehrung und Schande gewesen zu sein! Man möchte von ihm das Bekenntnis hören: Wozu hat mir das reine, makellose Leben genützt, das ich führte, wozu all die emsige Arbeit, die ich der Öffentlichkeit leistete, meine literarischen Schriften, die Diensie, die ich der Akademie widmete, und die Werke, die mich unsterblich machen sollten, wenn meine Asche zum Gegenstand der Verachtung wird, indem man meinen Ruf zu bestecken sucht, wenn ich meiner Familie nichts als<231> Schande und Unehre hinterlasse? Doch nein, mein Herr! Maupertuis' Feinde haben ihn schlecht gekannt; er verachtet ihre ohnmächtige Wut und verzeiht ihnen. Er ist zu sehr PHUosoph, um sich seine Seelenruhe nach dem Gutdünken seiner Feinde er, schüttern zu lassen, und ein zu guter Christ, um in seinem Herzen Rachsucht zu nähren. Er hat ihr Wutgeschrei kaum gehört, und selbst wenn er gesund wäre, hätte er nicht darauf geantwortet.

Ist die wohlverstandene Ruhmesliebe die erste Triebfeder großer Seelen und der ftuchtbare Mutterboden edler Taten und seltener, ja einziger Tugenden zum Wohle der Allgemeinheit: muß man dann Leute, die den großen Männern ihren wohlverdienten Ruhm zu rauben suchen, nicht für Störenfriede der öffentlichen Ordnung und für gefährlicher als Mörder halten? Und was soll aus dieser edlen Glut werden, die den Menschen durch die Lockung eines rein idealen Lohnes zu großen Dingen treibt, wenn man solche verbrecherischen Verschwörungen duldet, die den Ruhm, gekrönten das, was sie besitzen, entreißen wollen?

Sie sehen, Maupertuis' Feinde sind im Irrtum. Sie haben Neid mit Wetteifer verwechselt, ihre Verleumdungen mit Wahrheiten, den Wunsch, einen Menschen zu verderben, mit seinem wirtlichen Untergang, die Hoffnung, ihn in Verzweiflung zu bringen, mit dem Zusammenbruch seines Daseins und ihren Wahnsinn mit den feinsigesponnenen Ränken. Mögen sie endlich begreifen, daß sie sich in ihren Plänen und Voraussetzungen verrechnet haben, und daß, wenn es Feiglinge gibt, die große Männer zu verleumden wagen, in unsrer Zeit auch noch Tugendhafte leben, die sie verteidigen.


227-1 Mit der obigen Schrift griff der König im November 1752 in den Streit ein, der zwischen dem Mathematiker Samuel König in Leiden und dem Präsidenten der Berliner Akademie, Maupertuis, um die Priorität der Entdeckung des „Prinzips der Neinsien Aktion“ entbrannt war. Nach diesem Gesetz sollte sich die haushälterische Natur für alle Bewegung stets mit dem kleinsten Kraftmaß begnügen. Maupertuis nahm diese Entdesung für sich in Anspruch, während Samuel König sie Leibniz zuwies. Der Leibnizbrief, auf den sich König bezog, wurde von der Berliner Akademie für eine Fälschung erklärt — wie heute feststeht, mit Unrecht. In einer anonymen Flugschrift „Réponse d'un académicien de Berlin à un académicien de Paris“ nahm nun Voltaire aus persönlichen Gründen gegen Maupertuis Partei. Gegen sie wandte sich Friedrich im obigen „Brief“. Voltaires Antwort blldete das Pamphlet: „Diatribe du Docteur Akakia, médecin du Pape“, die Friedrich öffentlich verbrennen ließ. Damit war der Bruch zwischen ihm und Voltaire unvermeidlich.

230-1 Maupertuis starb erst am 27. Juli 1759 in Basel.