<234> meine Herren, mit der flüchtigen Skizze fürlieb, die ich Ihnen davon entwerfen will, und lassen Sie mich die Hauptereignisse seines Lebens nur kurz berühren. Es hieße Voltaire entehren, wollte ich Gewicht auf Nachforschungen legen, die nur seine Herkunft betreffen. Im Gegensatz zu denen, die ihren Vorfahren alles und sich selber nichts schulden, verdankte er alles der Natur: er allein war der Schmied seines Glückes und seines Ruhmes. Es genügt zu wissen daß seine Verwandten, die Justizbeamte waren1, ihm eine anständige Erziehung gaben. Er studierte im Jesuitenkolleg Ludwigs des Großen unter den Vätern Poree und Tournemine, die zuerst die Funken des glänzenden Feuers entdeckten, das seine Werke erfüllt.

Obwohl noch jung, wurde Voltaire nicht wie ein gewöhnliches Kind angesehen. Sein Geistesschwung hatte sich schon offenbart. Dadurch kam er in das Haus der Frau von Rupelmonde. Die Dame war entzückt von der Lebhaftigkeit seines Geistes und den Talenten des jungen Dichters. Sie führte ihn in die beste Pariser Gesellschaft ein. Die große Welt wurde für ihn zur Schule, in der er seinen Geschmack und den feinen Takt erwarb, die Gewandtheit und Höflichkeit des Benehmens, die jene weltfremden Gelehrten nie erreichen, weil sie kein Urteil darüber haben, was in der guten Gesellschaft gefallen kann, die ihrem Blick zu entrückt ist, um sie kennen zu können. Diesem Tone der guten Gesellschaft, dieser funkelnden Glätte verdanken Voltaires Werke ihre Beliebtheit.

Schon waren seine Tragödie „Ödipus“2 und einige liebenswürdige Gesellschaftsgedichte in die Öffentlichkeit gedrungen, als in Paris eine anstößige Verssatire gegen den Herzog von Orleans, den damaligen Regenten von Frankreich, erschien3. Ein gewisser La Grange, Verfasser dieses dunklen Machwerks, wußte den Verdacht von sich abzulenken, indem er es für ein Werk Voltaires ausgab. Die Regierung handelte übereilt. Der junge Dichter wurde unschuldig verhaftet und in die Bastille gesteckt, wo er mehrere Monate blieb4. Da aber die Wahrheit früher oder später doch ans Licht kommt, so wurde der Schuldige bestraft und Voltaire als gerechtfertigt freigelassen.

Meine Herren, würden Sie es für möglich halten, daß es just die Bastille war, in der unser junger Dichter die ersten beiden Gesänge seiner „Henriade“ schrieb? Und doch ist es so. Sein Gefängnis ward ihm zum Parnaß, wo die Musen ihn begeisterten. Sicher ist, daß der zweite Gesang so geblieben ist, wie er ihn zuerst entwerfen. In Ermangelung von Papier und Tinte lernte er die Verse auswendig und behielt sie im Gedächtnis.


1 Voltaires Vater, François Arouet († 1722), war Notar und später Sportelzahlmeister an der Pariser Rechnungskammer. Über den Ursprung des Pseudonyms Voltaire ist Sicheres nicht bekannt. Es erscheint zuerst 1719 in der Widmung des „Ödipus“ an die Herzogin von Orleans.

2 Der „Ödipus“, 1712 begonnen, wurde am 18. November 1718 in Paris aufgeführt.

3 Die „Odes philippiques“ von La Grange (vgl. Bd.VII, S. 32).

4 Hier liegt eine Verwechslung vor mit Voltaires erster Gefangenschaft in der Basiille (1717/1718), die aber ihren guten Grund in einem höchst anstößigen lateinischen Spottgedicht („Puero !egante“) auf den Regenten hatte.