<99> Forderung von Recht und Gerechtigkeit anzuerkennen, wenn er nicht mit dem gesunden Menschenverstand in Widerstreit geraten will. Machiavell selbst bringt nichts als ein jammervolles Zeug zustande, wenn er andere Lehren aufstellen will, und wie er's auch anfängt, die Wahrheit hat er nicht unter seine Grundsätze zu beugen vermocht. Der Anfang dieses Kapitels ist böse für unseren Politikus: seine schnöde Grundsatzlosigkeit hat ihn da in ein Labyrinth verlockt, aus dem sein Geist vergehlich den Ausweg an einem Ariadnefaden sucht.

Ganz bescheiden frage ich Machiavell, was er wohl mit folgenden Worten sagen wolle: „Wenn man an einem neuen, eben emporgestiegenen Herrscher, also einem Usurpator, Klugheit wahrnimmt und Verdienst, so wird man sich williger an ihn anschließen als an einen Herrn, der seine hohe Stellung lediglich seiner Geburt verdankt. Der Grund: alle Gegenwart spricht uns stärker an als das Vergangene; findet man bei ihr sein Genügen, sucht man nicht mehr in der Weite.“

Traut Machiaoell einem ganzen Volke zu, es werde unter zweien gleich tapferen und geistvollen Männern dem Usurpator den Vorzug geben vor dem rechtmäßigen Fürsten? Oder aber schwebt ihm ein Herrscher ohne persönlichen Wert vor und demgegenüber ein Räuber voller Heldensinn und hohen Gaben? Die erste Annahme kann unmöglich die unseres Verfassers sein, sie würde den einfachsten Gesehen des gesunden Denkens widersprechen: das hieße eine Wirkung ohne Ursache, eine solche Vorliebe eines Volkes für einen Menschen, der durch Gewalttat sich zu seinem Herrn aufwirft und im übrigen nicht den geringsten persönlichen Vorzug vor dem angestammten Herrscher voraus hat. Mag sich Machiavell auf alle kunstgerechten Schlüsse der Sophistik stützen, meinetwegen auf Buridans Esel1, die große Frage bleibt ungelöst.

Ebensowenig kann aber die zweite Annahme in Betracht kommen, denn sie wäre ebenso gedankenlos wie die erste. Mögt ihr einem Usurpator sonstwelche Eigenschaften zubilligen, der Gewaltstreich, durch den er seine Herrschaft aufgerichtet, bleibt ein Rechtsbruch, das müßt ihr zugeben! Was darf man sich also von einem Menschen, der sich mit einem Verbrechen einführt, weiter versprechen als eine Herrschaft der Gewalt und Willkür? Man denke sich einen jungen Ehemann, dem sein Weib am Hochzeitstage Hörner aufsetzt: ob er sich nach dem Pröbchen von der Treue seiner Neuvermählten allzuviel Gutes versprechen wird?

Machiavell fällt in aller Form in diesem Kapitel über seine eigenen Grundsätze ein Verdammungsurteil. Klar spricht er's aus: ohne des Volkes Liebe, ohne die Zuneigung der Großen, ohne ein geschultes Heer ist's einem Fürsten unmöglich, sich auf dem Throne zu behaupten. Die Wahrheit scheint ihm wider Willen diese Huldigung abzuzwingen, wie Ähnliches die Theologen von den gefallenen Engeln versichern, die, wenn auch mit Zähneknirschen, den Herrn bekennen müssen.


1 Der französische Philosoph Jean Buridan aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bediente sich des Beispiels von dem Esel zwischen zwei Heubündeln, der starb, da er sich für keines der beiden zu entscheiden vermochte.