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Kritik der Abhandlung „Über die Vorurteile“ (1770)1

Ich habe soeben ein Buch gelesen, das den Titel führt: „Über die Vorurteile“. Während ich es prüfend las, fand ich zu meinem äußersten Erstaunen, daß es selber von Vorurteilen strotzt. Es ist ein Gemisch von Wahrheiten und falschen Vernunftschlüssen, von bitteren Kritiken und chimärischen Entwürfen, vorgetragen von einem fanatisch schwärmenden Philosophen. Um Ihnen genauen Einblick zu geben, werde ich mich genötigt sehen, bei einzelnem zu verweilen. Da ich jedoch nicht viel Zeit übrig habe, will ich mich auf etliche Bemerkungen über die Hauptsachen beschränken.

Im Wert eines Mannes, der auf jeder Seite den Philosophen betont, hoffte ich bestimmt, Weisheit und sehr folgerichtige Gedankengänge zu finden; ich bildete mir ein, da werde eitel Licht und Klarheit herrschen. Weit gefehlt! Der Autor stellt sich die Welt ungefähr so vor, wie Plato sich seine Republik ausdachte: empfänglich für Tugend, Glück und alle Vollkommenheit. Ich kann ihm versichern, daß die Welt, darin ich lebe, anders aussieht. Hier treten Gut und Böse überall vermischt auf, Leiblichkeit und Sittlichkeit haben gleichermaßen unter den Unvollkommenheiten, die sie kennzeichnen, zu leiden. Schulmeisterhaft bekräftigt er: die Wahrheit ist für den Menschen geschaffen, und man muß sie ihm bei jeder Gelegenheit sagen. Das verdient nachgeprüft zu werden. Ich stütze mich auf die Erfahrung und die Analogie, um ihm zu beweisen, daß die spekulativen Wahrheiten ganz und gar nicht für den Menschen geschaffen sind, daß sie sich vielmehr unaufhörlich seinem mühereichsten Suchen entziehen. Es ist für unsere Eigenliebe ein demütigendes Zugeständnis; die Macht der Wahrheit entreißt es mir.

Die Wahrheit liegt auf dem Grund eines Brunnens, die Philosophen arbeiten nach Kräften, sie von dort heraufzuholen. Alle Gelehrten klagen über die Anstrengungen, die es sie kostet, die Wahrheit zu entdecken. Wäre sie für den Menschen geschaffen, so würde sie sich von selbst seinen Augen darbieten. Ohne Mühen, ohne langes Nachdenken, ohne erst fehlzugreifen, würde er sie empfangen; ihre Augen-


1 Der obige Aufsatz ist in Form eines Briefes geschrieben, mit dem fingierten Datum: London, 2. April 1770. Er erschien anonym im Verlage des Berliner Buchhändlers Voß unter dem Titel: „Examen de l'Essai sur Ies préjugés. A Londres, chez Nourse libraire, MDCCLXX“.