<88> eine Metapher, eine Hyperbel.“ Das ist ja gut; wenn aber der Lehrer die Schönheiten des Autors nicht besser hervorhebt und nicht auf die Fehler aufmerksam macht, die auch dem größten Redner unterlaufen, so hat er seine Aufgabe nur halb erfüllt. Ich dringe so sehr auf alle diese Dinge, weil ich möchte, daß die Jugend mit klaren Begriffen die Schule verläßt, daß man nicht nur ihr Gedächtnis anfüllt, sondern vor allem auch ihr Urteil zu bilden sucht, damit sie das Gute vom Schlechten unterscheiden lerne und nicht bloß sage: „Das gefällt mir“, sondern künftig auch stichhaltige Gründe angeben könne, warum sie etwas billigt oder verwirft.

Um sich von dem Mangel an Geschmack zu überzeugen, der bis auf diesen Tag in Deutschland herrscht, brauchen Sie nur ins Schauspiel zu gehen. Da sehen Sie die abscheulichen Stücke von Shakespeare1 in deutscher Sprache aufführen, sehen alle Zuhörer vor Wonne hinschmelzen beim Anhören dieser lächerlichen Farcen, die eines kanadischen Wilden würdig sind. Ich nenne sie so, weil sie gegen alle Regeln des Theaters verstoßen. Diese Regeln sind nicht willkürlich. Sie finden sie in der Poetik des Aristoteles. Dort sind Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung als die einzigen Mittel vorgeschrieben, ein Trauerspiel packend zu machen. In den englischen Stücken dagegen umspannt die Handlung den Zeitraum von Jahren. Wo bleibt da die Wahrscheinlichkeit? Da treten Lastträger und Totengräber auf und halten Reden, die ihrer würdig sind; dann kommen Fürsten und Königinnen. Wie kann dies wunderliche Gemisch von Hohem und Niedrigem, von Hanswurstereien und Tragik gefallen und rühren? Man mag Shakespeare solche wunderlichen Verirrungen verzeihen; denn die Geburt der Künste ist niemals die Zeit ihrer Reife. Aber nun erscheint noch ein „Götz von Berlichingen“ auf der Bühne2, eine scheußliche Nachahmung der schlechten englischen Stücke, und das Publikum klatscht Beifall und verlangt mit Begeisterung die Wiederholung dieser abgeschmackten Plattheiten. Ich weiß, über Geschmack läßt sich nicht streiten. Gleichwohl erlauben Sie mir, Ihnen eins zu sagen: wer an Seiltänzern und Marionetten ebensoviel Vergnügen findet wie an den Tragödien von Racine, der will nur die Zeit totschlagen. Der zieht das, was zu seinen Augen spricht, dem vor, was zum Geiste spricht, die bloße Schaustellung dem, was zu Herzen geht. Doch kehren wir zu unserm Thema zurück.

Nachdem ich von den Schulen gesprochen habe, muß ich den Universitäten gegenüber mit dem gleichen Freimut auftreten und Ihnen die Verbesserungen vorschlagen, die allen denen als die vorteilhaftesten und nützlichsten erscheinen werden, die sich die Mühe reiflichen Nachdenkens geben. Man glaube nur ja nicht, die Lehrmethode der Wissenschaften sei gleichgültig. Wenn es den Professoren an Klarheit und Deutlichkeit gebricht, ist ihre Mühe umsonst. Sie haben ihre Vorträge schon im


1 Die deutschen Schauspieler der Döbbelinschen Truppe spielten in Berlin 1768 „Romeo und Julia“, 1775 „Othello“, 1777 „Hamlet“, 1778 „Macbeth“ und „Lear“.

2 Goethes Jugenddrama wurde in Berlin zum erstenmal durch die Wandertruppe von Heinrich Gustav Koch am 12. April 1774 aufgeführt.