<69> Rede dienen und die der denkende Leser sich leicht ergänzt. Seine Begeisterung stürmt zu den Kraftsiellen, und der Rest fällt als nebensächlich fort, da er nicht stracks zum Ziele führt. So drücken seine sich überstürzenden Worte nur das Wichtigste aus. Aber diese gesteigerte Sprache läßt sich auf die Dauer nicht durchhalten. Verständige Dichter schleudern sie nur wie Blitzstrahlen; dann dämpfen sie den Ton, weil alles sehr Leb, hafte kurz sein muß, just wie die tiefsten Wonnen der Menschheit.

Dürften wir wohl fragen, was ein Schüler der Logik von der folgenden Beweisführung halten würde: „Es sind schlechte Oden gedichtet worden, folglich hat der Geschmack sich von der Ode abgewandt.“ Er würde doch erkennen, daß der Geschmack sich nicht von der Ode, sondern nur von den schlechten Oden abwendet!

Kurz, unsre Gesetzgeber kommen mit der Sprache heraus und veröffentlichen ihre Gesetze: Wir danken ihnen! Offenbar machten Racine, Boileau und Voltaire regellose Verse, und für die Zukunft mußte eine Regel festgesetzt werden. Aber die Herren sagen ja nur Wohlbekanntes. Vielleicht gestatten sie uns eine Erklärung über gewisse Dinge, in die tiefer einzudringen sie sich offenbar nicht die Zeit genommen haben. Der Vers soll ebenso natürlich und grammatisch korrekt sein wie die beste Prosa. Das ist das große Verdienst Racines, durch das er seinen Ruf so lange behalten wird, wie die französische Sprache nicht entartet. Aber damit isi doch nicht gesagt, daß die Poesie keine Ausnahmen zuließe und daß man sie genau so beurteilen müßte wie die Prosa. Die Ellipse isi in der Poesie eine Schönheit. Wie fein sagt Racine:

Lieb war er mir im Unbestand. Was galt mir Treue?1

So spricht Hermione in einem Augenblick der Leidenschaft. In Prosa müßte es unbedingt heißen: „Was lag mir an seiner Treue?“ Nach den Regeln der Despoten wäre dieser Vers Racines also nichts wert. Daraus schließe ich, daß ungerechte Gesetze nichts taugen, und schließe ich falsch, dann sieht man's ja: ich habe keinen philosophischen Sinn.

Von einem Dichter verlangt man richtiges Denken, stete Eleganz und Harmonie, Zusammenhang und Aufbau der Gedanken, einen dem Gegenstand angemessenen Stil, Anmut, Reichtum und Mannigfaltigkeit, vor allem aber die Kunst, zu fesseln. Das alles sind Gaben der Natur, die man Genie und Talent nennt, die sich durch Studium der guten Autoren vervollkommnen und durch Geschmack verfeinern lassen. Wir wagen zu behaupten: wem immer diese Himmelsgaben verliehen wurden, der bedarf keines PrivUegs von unsren Despoten, um Leser und Bewunderer zu finden. Diese wahrhaft göttlichen Gaben sind bei allen zivilisierten Völkern und in allen


1 Je l'aimais inconstant; qu'aurais-je fait fidèle? „Andromache“, IV. Akt, 5. Szene.