<70> Zeitaltern so selten, daß die Namen derer, die sie besaßen, das Gedächtnis der Kunstfreunde nie beschweren werden. Vielleicht könnte man hinzufügen: die Mathematiker waren verbreiteter; denn mit Fleiß und rein mechanischer Kunstfertigkeit kann jedermann Kurven berechnen. Doch wir hüten uns, eine so waghalsige und ketzerische Behauptung aufzustellen, und begnügen uns mit der Versicherung, daß die Dichtkunst das größte Genie im Bunde mit mächtiger, aber geregelter Einbildungskraft erfordert.

Ich zitterte schon, als ich die neuen mathematischen Gesetze für die Poesie las, und fürchtete nicht ohne Grund, die Gesetzgeber möchten sich's beikommen lassen, den Reim zu verpönen und an seiner Statt Zahlen an die Versenden setzen, die der Silbenzahl entsprechen. Das hätte sie mit der Poesie vielleicht wiederausgesöhnt, und sie hätten die Verse dann von Rechts wegen durch Zahlen und Berechnungen unterjocht. Aber zum Glück sind sie nicht auf den Einfall gekommen. Sie waren so gütig, den Reim gutzuheißen, ja ihn für den französischen Versbau als notwendig zu fordern.

Es demütigt uns, daß sie ihre Gesetze so trocken verkünden, ohne sie zu begründen. Wir durften hoffen, sie würden mit ihrem philosophischen Sinn die Frage ergründen, ob der Reim oder das Versmaß unsre Alexandriner eintönig macht. Fällt beim Lesen solcher Verse auf die Dauer etwas zur Last, so ist es die ewige Wiederkehr des gleichen Rhythmus, ein Mißstand, dem sich durch wechselnde Versmaße leicht abhelfen ließe. Wir wähnten, unsre Schulmeister hätten irgend eine physikalische, aus der sinnlichen Wahrnehmung abgeleitete Betrachtung über den Reim angestellt und damit die Meinung des größten zeitgenössischen Dichters bestätigt. Denn der Maler und Bildhauer schafft für das Auge, der Dichter und Musiker aber für das Gehör. Jeder Künstler gehört vor den Richterstuhl des Sinnes, für den er schafft. Also haben die Ohren und nicht die Augen über den Reim zu entscheiden. Allein die Mathematiker würden sich etwas zu vergeben meinen, wenn sie zu solchen Kleinigkeiten herabstiegen. Das hieße ja, Milben mit der Keule des Herkules erschlagen.

Dieselben Herren wollen die Poesie aus der Musik verbannen und sie durch rhythmische Prosa ersetzen. Wir haben Anlaß zu glauben, daß sie ob der Harmonie der Sphären in Verzückung geraten waren, als ihnen dieser Gedanke entfuhr. Nicht Prosa braucht die Musik, sondern, wenn es doch gesagt werden muß, Verse mit männlichen Reimen. Da wir aber keine despotischen Gesetze erlassen, müssen wir unsre Meinung begründen. Beim Sprechen verletzt das stumme e das Ohr nicht; denn im Französischen liegt der Ton nicht auf der letzten Silbe. Nicht so bei der Musik. Die Note, die zur letzten Silbe gehört, muß betont werden, und durch diese Dehnung wirkt das an sich stumme e unangenehm und verletzend.

Unsre Mathematiker führen uns nun zum zweitenmal ihren Greis vor, offenbar ihr Lieblingsargument! Prüfen wir es aufmerksam und sehen wir zu, ob es tat-