<66> Firmaments! Dieselben Despoten haben — offenbar mit einem unzulänglichen Fernrohr — die Beobachtung gemacht, daß die wahren Dichter fröhlichen Gedanken abhold sind. Ach, sie haben selbst keine, die armen Schlucker, und das gestehen sie ja auch ziemlich gutwillig durch ihre Versicherung, daß alles sie langweilt. Lassen wir sie also nach Herzenslust gähnen, und wäre es im siebenten Himmel, und verzichten wir auf die frohen Gedanken nur in der Tragödie und in der Elegie. Aber so sehr sie auch gähnen, sie lassen es dabei nicht bewenden. Sie wollen uns auch noch das Reich der Mythologie rauben. Doch wir wollen sie mit dem Blitz des gewaltigen Boileau niederschmettern:

Bald ist's verpönt, die Weisheit vorzuführen,
Mit Wag' und Binde Themis zu zitieren1.

Sie wollen die alte Mythologie in Bann tun, damit wir uns eine neue ersinnen und uns den frommen Henkern ausliefern, in deren Händen Galilei — einer der ihren — fast umkam. Lassen wir das, meine Brüder, und behalten wir unser Besitztum! Was liegt daran, welcher Alte diese geistreichen Allegorien ersann? Benutzen wir sie mit Verstand und am rechten Orte. Es kommt nur darauf an, sie geschickt anzubringen. Glauben sie etwa, es gäbe neue Gedanken? Da täuschen sie sich. Unser Ideenkreis ist nicht so weit, wie sie wähnen. Neu ist an den meisten Gedanken nur die Form und die Art ihrer Darstellung. Wer uns engere Grenzen zieht, macht uns arm; unsre Kunst braucht Überfluß und Verschwendung. Cicero2 wünscht, bei einem angehenden Redner Überschüssiges wegschneiden zu können. Mit Recht. Wir glauben ihm mehr als Euklid, trotz all seiner Gelehrsamkeit. Schon Salomo hat gesagt: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Er hat sich nicht geirrt, wenn man von einigen metaphysischen Abgeschmacktheiten absieht, von denen schwer zu erraten war, daß der menschliche Geist sie eines Tages aushecken und ein furchtgebietendes System daraus zimmern würde. Aber es kommt noch besser: Leibniz und Newton haben fast gleichzeitig die gepriesene Integralrechnung erfunden. Wenn also zwei Mathematiker sich in den abstraktesten Gedanken begegnen und die andren ewig ihre Kurven berechnen, warum will man uns dann das Recht nehmen, die antike Mythologie zu benutzen? Haben wir darauf nicht den gleichen Anspruch wie auf die Systeme von Newton oder Descartes? Ich wiederhole: unser Gebiet ist die Wirklichkeit und die Welt der Phantasie. Benutzen wir alles und folgen wir dem Beispiel der Natur, die sich in dem, was sie schafft, stets wiederholt, aber nie abschreibt.

Ach, meine Herren Mathematiker, was haben Sie für eine sonderbare Logik! Da Sie Anakreon nichts anhaben können, setzen Sie zunächst die Gattung, in der er gedichtet hat, herab, und dann sagen Sie: das Original darf nicht kopiert werden!


1

Bientôt ils défendront de peindre la Prudence,
De donner a Thémis ni bandeau, ni balance.

2 De Oratore II, Kap. 21.