<65> die Sitten in der Komödie oder hüllt sich mahnend in das Gewand der Fabel. Bei ihr finden wir Erholung, Zerstreuung und Ergötzung. Cicero, der Vater des Vaterlandes und der Beredsamkeit, gesteht1, daß er sich des Abends von den Anstrengungen seines Advokatenberufes an den Reizen der Poesie erquickt habe. Die edelsten Geister des Altertums fanden ihren Hochgenuß in ihr. Die Poesie hat verschiedene Gattungen; jede besitzt ihre Vorzüge. Wir wollen keine ausschließen und uns vor den barbarischen Rechenmeistern hüten, die die Zahl unsrer Freuden verringern wollen.

Diese Barbaren messen alles mit der gleichen Elle, den Lehrsatz und das Epigramm. Sie möchten die Ars poetica Boileaus der Algebra unterwerfen, so gut wie die Berechnung der lebendigen Kräfte. Mögen sie sich gesagt sein lassen, daß Gefühl und Genuß sich nicht berechnen lassen. Mögen sie ihren durch das Opium der Integral- und Differentialrechnung betäubten Sinnen mißtrauen. Diese Banausen wähnen uns lächerlich zu machen, indem sie von einem großen Dichter berichten, er habe sich gerühmt, das Wort Perücke in einem Vers angebracht zu haben2. Mögen sie nicht erröten, wenn sie erfahren, was sie da so geringschätzig und hochmütig abtun.

Die feinfühlige französische Poesie sieht in gewissen volkstümlichen Worten etwas Gewöhnliches. Kann man sie also durchaus nicht umgehen, so muß man sie umschreiben. Dieser Zwang ist hart, denn man muß einem gewöhnlichen Gedanken eine vornehme Wendung geben. Mit seltenem Geschick hat Racine solche gemeinen Ausdrücke unter kraftvollen Beiwörtern sozusagen versteckt, z. B. in den folgenden Versen:

So liegt sein Leib, von keinem Grab gedeckt,
Zum Fraß den gierigen Hunden hingestreckt 3.

Man muß selbst viele Verse gemacht haben, um die große Kunst in der Überwindung der Schwierigkeit voll zu ermessen. Doch was sind Verse für die Despoten des


1 Pro Archia poeta, Kap. 6.

2 Boileau, Epistel X, Vers 26; Brief IX an Maucroir.

3

Et son corps désormais privé de sépulture
Des chiens dévorants deviendra la pâture.

Diese Verse, deren zweiter einen metrischen Fehler hat, kommen bei Racine nicht vor. Vielleicht liegt eine Reminiszenz an „Athalie“, II. Akt, 5. Szene vor:
     

Mais je n'ai plus trouvé qu'un horrible mélange
D'os et de chair meurtris et traînés dans la fange,
Des lambeaux pleins de sang et des membres afreux,
Que des chiens dévorants se disputaient entre eux.
(Doch fand ich nur noch einen grausen Klumpen
Von Fleisch und Knochen, durch den Kot gerissen.
Zermalmte Glieder sahn aus blutigen Lumpen,
Ein Fraß, um den sich gierige Hunde bissen.)