<64> vorgeht. Das Volk der Reimschmiede ist sehr zu beklagen, daß es von den Kurvenzeichnern zu Boden geschlagen wird. Aber es gibt sich nicht verloren. Es ist vielmehr überzeugt, daß dreißig gute Verse dem Publikum mehr Spaß machen als alle astronomischen Tabellen.

Ich komme nun zu einem andren Trick der kunstfeindlichen Mathematiker. Sie fallen über die mäßigen Dichter her, deren Zahl leider Legion ist, und lassen durchblicken, daß ihr Ansehen sinkt. Daraus wollen sie allgemeine Schlüsse ziehen, die auf den Untergang der ganzen Poesie abzielen. Wie sehr das zutrifft, ergibt sich aus ihrer Erklärung, Virgil habe nicht die Ehre, ihnen zu gefallen. Sie würden wohl noch manche andre angreifen, aber sie fürchten die Lebenden. Nur die Toten beißen nicht. Mögen sie selbst sich in die Algebra vergraben, mögen sie bleich werden über ihren Integralrechnungen, die das Ergötzlichste auf Erden sind. Aber mögen sie auch darauf verzichten, den Krieg in eine Nachbarprovinz zu tragen, deren Sitten und Gesetze sie nicht kennen und in der sie unter dem nichtigen Vorwand, Mißbräuche zu beseitigen, nur alles auf den Kopf stellen würden.

Die Herren Mathematiker möchten die Herren des Menschengeschlechts spielen. Sie berufen sich auf die Vernunft, als hätten sie sie allein gepachtet. Sie reden hochtrabend vom philosophischen Sinne, als könnte man den nicht auch ohne ab minus x und dergleichen Zeug besitzen. Mögen sie sich gesagt sein lassen, daß Verstand in allen Lebenslagen erforderlich ist und daß der Dichter Analyse, Methode und Urteilskraft ebenso nötig hat wie der Rechner.

In der Dichtkunst verschließt sich der Verstand nicht dem Zauber der Einbildungskraft. Ebensowenig verachtet er das Wunderbare, vorausgesetzt, daß es sich in gewissen Grenzen hält. Streng prüft er die Gedanken, die grammatische Richtigkeit, die Fabel, den Knoten, die Entwicklung der Handlung, die Charaktere, wenn solche vorhanden sind, den Aufbau, die Methode und Struktur des Werkes, den Dialog, wenn es ein Drama ist. Aber er überläßt dem Gehör das Urteil über den Wohlklang und dem Geschmack die Entscheidung über gewisse Ausschmückungen, die in einem Lande ergötzen, aber im andren mißfallen. Varignon1 gibt keinen Lehrsatz zur Bildung des Gehörs. Duverney2 soll bei seinem Seziermesser bleiben, aber Boileau3 soll über die Dichter richten. Ein Mathematiker, der bei seinen Berechnungen ein Auge verloren hatte4, kam auf den Einfall, ein Menuett nach a plus b zu komponieren. Wäre es vor dem Richterstuhl Apolls gespielt worden, so hätte es dem armen Mathematiker leicht so ergehen können wie Marsyas, dem lebendig Geschundenen.

Die Poesie wirkt belehrend im Epos und im Drama, wo sie große Tugenden und Laster darstellt. Sie wird zur strengen Tadlerin in der Satire. Scherzend bessert sie


1 Pierre Varignon (1654—1722), berühmter französischer Mathematiler.

2 Joseph Guichard Duverney (1648—1730), berühmter französischer Anatom.

3 Boileau-Despréaux (1636—1711), als Verfasser der „Art poétique“ (1674) und zahlreicher Satiren und Episteln der Diktator des klassizistischen Geschmacks in Frankreich.

4 Leonhard Euler (1707—1783).