<51> ihn mehr ehren als die rohe Sättigung seiner Begierde? Er zog also den guten Ruf der Wollust vor.

Wie viele Züge von Tugend, wie viele unsterbliche Ruhmestaten hat man nicht tatsächlich dem Instinkt der Selbstliebe zu verdanken? Aus einem geheimen, fast unmerklichen Gefühl beziehen die Menschen alles auf sich selbst. In sich sehen sie einen Mittelpunkt, in dem alle Strahlen ihres Umkreises zusammenlaufen. Welche gute Tat sie auch tun mögen, sie selbst sind deren verborgener Gegenstand. Das stärkere Gefühl überwiegt bei ihnen das schwächere, und oft bestimmt ihr Handeln ein falscher Schluß, dessen Mängel sie nicht einsehen. Man darf ihnen also nur das wahre Gute zeigen, ihnen dessen Wert klarmachen und ihre Leidenschaften in den Dienst der Tugend stellen, indem man sie lenkt und eine gegen die andre setzt.

Gilt es ein Verbrechen zu verhüten, das jemand begehen will, so findet man ein Abschreckungsmittel in den Gesetzen, die es bestrafen. Man muß dann den Selbsterhaltungstrieb jedes Menschen wachrufen und ihn den schlimmen Absichten entgegenstellen, die ihn den strengsten Strafen, ja dem Tode aussetzen. Der Selbsterhaltungstrieb kann auch Wüstlinge bessern, die durch ihre Ausschweifungen ihre Gesundheit zerrütten und ihr Leben verkürzen. Ein gleiches gilt von denen, die sich vom Jähzorn hinreißen lassen; denn es gibt Beispiele dafür, daß diese Leidenschaft bei großer Heftigkeit epileptische Anfälle zur Folge hat.

Die Furcht vor Tadel bringt fast die gleichen Wirkungen hervor wie der Selbsterhaltungstrieb. Wie viele Frauen verdanken ihre Keuschheit, deretwegen man sie lobt, dem Verlangen, ihren Ruf vor Verleumdung zu schützen! Wie viele Männer sind nur darum uneigennützig, weil sie fürchten, in der Welt als Betrüger und Elende dazustehen, wenn sie anders handelten.

Kurz, die verschiedenen Triebfedern der Eigenliebe geschickt in Bewegung zu setzen, es so hinzustellen, daß alle Vorteile von guten Handlungen dem Handelnden selbst zugute kommen — das ist das Mittel, um diesen Quell des Guten und Bösen zur treibenden Kraft des Verdienstes und der Tugend zu machen.

Ich muß zu unsrer Schande gestehen, daß man in unsrem Jahrhundert eine merkwürdige Abkühlung gegen alle Bestrebungen zur Besserung des menschlichen Herzens und der Sitten antrifft. Man sagt öffentlich und läßt es sogar drucken: die Moral sei ebenso langweilig wie unnütz. Man behauptet: die Menschennatur sei ein Gemisch von Gut und Böse, das sich nicht ändern lasse; die stärksten Gründe wichen der Gewalt der Leidenschaften, und man müsse die Welt gehen lassen, wie sie geht.

Wenn man nun mit dem Erdboden ebenso verführe, wenn man ihn unbebaut ließe, so würde er sicherlich nur Disteln und Dornen tragen, nie aber die reichen und nützlichen Ernten, die uns mit Nahrungsmitteln versorgen. Ich gebe zu: soviel man sich auch um Besserung der Sitten bemüht, es wird stets Lasier und Verbrechen auf der Welt geben. Aber es werden ihrer doch weniger sein, und damit ist schon viel gewonnen. Es wird dann auch mehr gebesserte und voll entwickelte Seelen geben,