<5> und sein Einzug in Paris setzen den Bürgerkriegen der Ligue, die Frankreich zerrütteten, ein Ende. Darin ist der Franzose dem Lateiner weit überlegen, der seine Äneis nicht so fesselnd schließt, wie er sie begonnen hat. Am Ende verflackert das schöne Feuer, das den Leser im Anfang jener Dichtung entzückte. Man möchte sagen, Virgil habe die ersten Gesänge in der Blüte der Jugend verfaßt, aber die letzten im Alter, wo das Hinschwinden der Einbildungskraft und das allmähliche Verlöschen des geistigen Feuers den Kriegern das Heldentum und den Dichtern die Eingebung raubt.

Voltaire ahmt zwar hier und da Virgil und Homer nach, aber doch stets in selbständiger Weise. Man merkt dabei, daß das kritische Urteil des Franzosen dem lateinischen und griechischen Dichter unendlich überlegen ist. Man vergleiche das Hinabsteigen des Odysseus in die Unterwelt1 mit dem VII. Gesang der „Henriade“, und man wird sehen, daß den letzteren eine Fülle von Schönheiten ziert, die Voltaire ganz allein sich verdankt. Schon der Gedanke, Heinrich IV. im Traume all das sehen und hören zu lassen, was er im Himmel und in der Hölle erblickt und was ihm im Schicksalstempel geweissagt wird, wiegt die ganze Ilias auf. Denn der Traum Heinrichs IV. führt alles, was er erlebt, auf die Regeln der Wahrscheinlichkeit zurück, wogegen die Unterweltsszene der Odyssee all der Reize bar ist, die Homers genialer Fiktion den Schein der Wahrheit hätten geben können. Auch stehen alle Episoden in der „Henriade“ am rechten Fleck. Der Verfasser hat seine Kunst so geschickt verborgen, daß sie nicht zu sehen ist und als natürlich erscheint. Ja, man möchte sagen, all die Schönheiten, die seine fruchtbare Phantasie hervorgebracht hat und die das ganze Gedicht Seite für Seite zieren, fügen sich ganz notwendig ein. Nirgends findet man die kleinlichen Details, in die so viele Schriftsteller versinken, bei denen Trockenheit und Schwulst an Stelle des Genies treten. Die pathetischen Szenen weiß Voltaire packend zu gestalten. Er besitzt die große Kunst, die Herzen zu rühren. Solche ergreifenden Stellen sind Colignys Tod2, Valois' Ermordung3, der Kampf des jungen d'Ailly, Heinrichs IV. Abschied von der schönen Gabrielle d'Estrées und der Tod des tapfern Chevalier d'Aumale4. Jedesmal, wenn man das liest, ist man ergriffen. Mit einem Worte: der Verfasser verweilt nur bei den fesselndsten Stellen und geht leicht über alles hinweg, was sein Gedicht in die Länge ziehen würde. In der „Henriade“ ist nichts zu viel und nichts zu wenig.

Die Wunder, die der Verfasser benutzt, können keinen vernünftigen Leser stören. Alles kommt durch das Religionssysiem der Wahrscheinlichkeit nahe. Solche Macht besitzen Poesie und Beredsamkeit. Sie vermögen selbst Gegenstände ehrwürdig zu machen, die es an und für sich nicht sind, und sie so glaubhaft zu gestalten, daß sie den Leser verführen.


1 Odyssee, XI. Gesang.

2 In der Bartholomäusnacht am 23. August 1572 (II. Gesang, Vers 207).

3 König Heinrich III., der letzte des Hauses Valois, wurde am 1. August 1589 von dem fanatischen Mönche Jakob Clement ermordet (V. Gesang, Vers 279).

4 VIII. Gesang, Vers 207; IX, 339; X, 148.