<4> nennen beliebt. Jedoch er folgte lieber dem unwiderstehlichen Drang seines Genius als den Vorteilen, die er dem Schicksal gewiß abgerungen hätte. Seine Erfolge haben seine Erwartungen vollauf gerechtfertigt. Er ehrt die Wissenschaften ebenso, wie sie ihn ehren. In der „Henriade“ tritt er zwar nur als Dichter hervor. Aber er ist auch ein tiefer Philosoph, ein gelehrter Historiker.

Die Künste und Wissenschaften sind ungeheure Länder. Sie alle zu erobern, wie Cäsar oder Alexander die Welt erobert haben, ist uns schier unmöglich. Schon zur Unterwerfung eines kleinen Gebietes ist viel Talent, viel Streben nötig, und so gehen die meisten denn auch bei der Eroberung jener Länder den Gang der Schildkröte. Es gibt aber auch in den Wissenschaften Reiche, die unter eine Unzahl kleiner Herr, scher aufgeteilt sind, genau wie in der Welt. Diese großen Herrscherbünde haben sogenannte Akademien gebildet. Aber wie sich in Ländern mit aristokratischer Ver, fassung oft Leute mit überlegenem Geiste finden, die sich über die anderen hinaus, geschwungen haben, so haben auch die aufgeklärten Zeitalter Menschen hervorgebracht, die in sich das Wissen vereinigten, das vierzig denkenden Köpfen1 Beschäftigung genug gegeben hätte. So zu ihrer Zeit Leibniz und Fontenelle2, so heute Voltaire. Es gibt keine Wissenschaft, die nicht in sein Arbeitsgebiet fiele: von der höheren Mathematik bis zur Poesie hat er sie alle durch die Kraft seines Genius unterjocht.

Wer die Welt kennt und Voltaires Werke gelesen hat, wird leicht begreifen, daß der Neid ihn nicht verschonen tonnte. Große Begabung im Verein mit europäischem Rufe pflegt die Halbgelehrten, die Zwitter von Gelehrsamkeit und Unwissenheit, zu empören. Da die armen Schelme selbst talentlos sind, so schlagen sie dreist auf die los, denen sie sich überlegen wähnen, und verfolgen hartnäckig die strahlenden Geister, deren Licht sie verdunkelt. Und so haben denn alle finsteren Mächte, Bosheit und Verleumdung, Undank und Haß, sich gegen Voltaire verschworen. Keine Art von Verfolgung blieb ihm erspart. Machthaber, die ihn im Interesse ihres eignen Ruhmes hätten schützen sollen, haben ihn feig im Stich gelassen und ihn dem Haß seiner ver, brecherischen Feinde preisgegeben.

Trotz einiger zwanzig Wissenschaften, die Voltaires Schaffen zersplittern, trotz seines häufigen Krankseins und des Kummers, den ihm unwürdige Neider bereiten, hat er seine „Henriade“ zu einem Grad der Vollkommenheit gebracht, den meines Wissens wohl nie eine Dichtung erreicht hat. Die Führung der Handlung, die Stoffverteilung sind so weise durchdacht, wie nur möglich. Der Verfasser hat sich die Vorwürfe zunutze gemacht, die gegen Homer und Virgil erhoben worden sind. Die ein, zelnen Gesänge der Ilias haben wenig oder gar keinen Zusammenhang; man hat sie deshalb Rhapsodien genannt. In der „Henriade“ sind alle Gesänge aufs innigste miteinander verknüpft. Ein und dieselbe Handlung zerfällt durch den zeitlichen Ver, lauf in zehn Hauptereignisse. Der Schluß ist natürlich: Heinrichs IV. Übertritt3


1 Die französische Akademie zählt vierzig Mitglieder.

2 Bernard le Bovier de Fontenelle (1657 bis 1757).

3 Zum Katholizismus (1593).