<46> verwandeln müssen und nur solche auswählen dürfen, deren Einbildungskraft stark genug war, um in dies Gebiet einzudringen. Aber nur der Geist Weniger ist dazu imstande. Wie die Erfahrung lehrt, hat das Gegenwärtige, Sinnfällige bei der großen Masse das Übergewicht über das Fernliegende, nur schwächer Wirkende. Darum wird sie die irdischen Güter, deren Genuß sie mit Händen greift, stets den imaginären Gütern vorziehen, deren Besitz sie sich nur undeutlich und in weiter Ferne vorstellt.

Aber was sollen wir erst von dem Motiv der Liebe zu Gott sagen, das die Menschen zur Tugend anspornen soll? Jener Liebe, die nach der Forderung der Quietisten von Höllenfurcht und Paradieseshoffnung frei sein soll? Ist eine derartige Liebe wohl möglich? Das Endliche kann das Unendliche nicht begreifen. Folglich können wir uns keine genaue Vorstellung von der Gottheit machen, sondern uns nur allgemein von ihrem Dasein überzeugen. Und das ist alles. Wie kann man da von einer schlichten Seele verlangen, ein Wesen zu lieben, das sie garnicht zu erkennen vermag? Begnügen wir uns also damit, es im stillen anzubeten, und beschränken wir unsre Herzensregungen auf das Gefühl tiefer Dankbarkeit gegen das höchste Wesen, in dem und durch das alles existiert.

Je mehr man diesen Gegenstand untersucht und erörtert, desto klarer wird es, daß man ein allgemeineres und einfacheres Prinzip anwenden muß, um die Menschen zur Tugend zu bewegen. Wer sich in das Studium des Menschenherzens vertieft hat, wird gewiß schon die Triebfeder entdeckt haben, die man in Tätigkeit setzen muß. Diese mächtige Triebfeder ist die Eigenliebe, die Wächterin unsrer Selbsterhaltung, die Schöpferin unsres Glücks, die unversiegliche Quelle unsrer Tugenden und Laster, der verborgene Grund alles menschlichen Tuns und Lassens. Sie findet sich bei Menschen von Geist in hervorragendem Grade und klärt noch den Stumpfsinnigsten über seinen Vorteil auf. Was ist nun schöner und bewundernswerter als ein Prinzip, das zum Lasier führen kann, just zur Quelle des Guten, des Glücks und der öffentlichen Wohlfahrt zu machen? Das aber würde geschehen, wenn ein geschickter Philosoph den Gegenstand in die Hand nähme. Er würde der Eigenliebe Grenzen ziehen, sie zum Guten lenken, eine Leidenschaft gegen die andre setzen und die Menschen durch den Nachweis, daß die Tugend ihr eigner VorteU ist, wirklich tugendhaft machen.

Larochefoucauld1 hat in seinen Untersuchungen über das menschliche Herz die Triebfeder der Eigenliebe sehr glücklich aufgedeckt, aber leider nur, um unsre Tugenden zu lästern und zu zeigen, daß sie nur Schein sind. Ich wünschte, man benutzte diese Triebfeder, um den Menschen zu beweisen, daß es ihr eigner Vorteil erheischt, gute Staatsbürger, gute Väter, gute Freunde zu sein, kurz, alle moralischen Tugenden zu besitzen. Und da es sich wirklich so verhält, würde es nicht schwer fallen, sie davon zu überzeugen.


1 „Pensées, maximes et réflexions“ , Paris 1665.