<268>

Dialog über die Moral
Ein moralischer Katechismus zum Gebrauch für die adlige Jugend
1

Frage: Was ist Tugend?

Antwort: Eine glückliche Gemütsanlage, die uns treibt, die Pflichten gegen die Gesellschaft zu unsrem eignen Vorteil zu erfüllen.

Frage: Worin bestehen die Pflichten gegen die Gesellschaft?

Antwort: Im Gehorsam gegen unsre Eltern und in der Dankbarkeit, die wir ihnen für die Mühe schulden, die sie sich mit unsrer Erziehung gegeben haben. Wir sollen ihnen mit allen Kräften beistehen, und wenn sie alt und hinfällig sind, ihnen durch Treue und Zärtlichkeit die Dienste vergelten, die sie uns in unsrer hilflosen Kindheit erwiesen haben. Zu treuer Anhänglichkeit an unsre Geschwister mahnt uns die Natur und das Blut. Gleichen Ursprungs mit ihnen, sind wir durch die unauflöslichsten Bande der Menschheit mit ihnen verknüpft. Als Eltern müssen wir unsre Kinder mit aller möglichen Sorgfalt erziehen und besonders auf ihre Bildung und ihre Sitten achten; denn Tugend und Kenntnisse sind tausendmal mehr wert als alle angehäuften Schätze, die wir ihnen als Erbe hinterlassen könnten. Als Staatsbürger haben wir die Pflicht, die Gesellschaft im ganzen zu achten, alle Menschen als Angehörige einer Gattung anzusehen, sie als Gefährten und Brüder zu betrachten, die uns die Natur gegeben hat, und nur so gegen sie zu handeln, wie wir wünschen, daß sie gegen uns handeln. Als Glieder des Vaterlandes sollen wir alle unsre Talente zu seinem Nutzen verwenden und es ehrlich lieben, da es unsre gemeinsame Mutter ist. Wenn sein Heil es erfordert, sollen wir ihm Gut und Blut opfern.

Frage: Oh, das sind gute und schöne Grundsätze! Nur möchte ich wissen, wie Du diese Pflichten gegen die Gesellschaft mit Deinem eignen Vorteil in Einklang


1 Die Schrift wurde für die Académie des Nobles und das Kadettenkorps verfaßt und zugleich mit dem französischen Text in deutscher übersehung von Ramler gedruckt. Der Dialog ist eine Nutzanwendung der Abhandlung „Die Eigenliebe als Moralprinzip“ (vgl. S. 44 ff.).