<246> vierundachtzig Jahren. Bei ihm beherrschte der Geist stets den Leib. Seine starte Seele teilte ihre Kraft einem Körper mit, der fast wie ein Hauch war. Sein Gedächtnis war erstaunlich. Bis zum letzten Atemzuge blieb sein Geist völlig klar und seine Vorstellungskraft rege. Mit welcher Freude, meine Herren, erinnere ich Sie an die Beweise von Bewunderung und Dankbarkeit, die die Pariser diesem großen Manne während seines letzten Aufenthaltes im Vaterlande darbrachten1! Es ist schön, aber selten, daß die Welt gerecht ist und jenen Ausnahmemenschen, die die Natur nur hin und wieder hervorbringt, schon bei Lebenszeit Gerechtigkeit widerfahren läßt, daß sie bei ihren Zeitgenossen selbst den Beifall finden, den sie von der Nachwelt mit Sicherheit ernten. Man durfte billig erwarten, daß auf Voltaire, der den ganzen Scharfsinn seines Genius dem Ruhme seines Volkes gewidmet hat, einige Strahlen zurückfallen würden. Das haben die Franzosen gefühlt und sich durch ihre Begeisterung des Glanzes würdig gemacht, den ihr großer Lands, mann über sie und über das Jahrhundert ausgegossen hat. Würde man indes glauben, daß einem Voltaire, dem das heidnische Hellas Altäre und das alte Rom Statuen errichtet hätte, dem eine große Kaiserin, die Beschützerin der Wissenschaften, in Petersburg ein Denkmal setzen wollte2, daß einem solchen Manne, sage ich, in seinem Vaterlande das bißchen Erde fast verweigert wurde, das seine Asche bedeckte? Wie? Im achtzehnten Jahrhundert, wo die Aufklärung verbreiteter ist denn je, wo der philosophische Geist so große Fortschritte gemacht hat, sollte es Priester geben, barbarischer als die Heruler, würdiger, unter den Völkern von Taprobane3 zu leben, als im Schoße der französischen Nation, Elende, die, durch falschen Eifer verblendet und von Fanatismus trunken, verhindern, daß die letzten Pflichten der Menschlichkeit einem der berühmtesten Männer erwiesen werden, die Frankreich hervorgebracht hat? Und doch hat Europa das mit Schmerz und Entrüstung gesehen4! Aber wie groß auch der Haß dieser Rasenden und ihre feige Rachsucht sei, die sie noch gegen Leichname wüten läßt — weder das Geschrei des Neides noch ihr wildes Geheul werden Voltaires Andenken bestecken. Das gelindeste Schicksal, das


1 Am 30. März 1778 wohnte Voltaire nach einem glanzvollen Empfang in der Akademie der Aufführung seiner „Irene“ bei, die sich für ihn zu einer beispiellosen Ovation gestaltete. Nach der Vorstellung wurde seine Büste auf der Bühne mit Lorbeer gekrönt und ihm selbst ein Lorbeerkranz aufs Haupt gedrückt.

2 Wie d'Alembert am 16. August 1778 dem König schrieb, hatte Katharina II. Voltaires Bibliothel angekauft und beabsichtigte, sie in einem kleinen Tempel aufzustellen und in dessen Mitte ihm ein Denkmal zu erlichten.

3 Taprobane, altgriechischer Name für Ceylon, nach dem Sanskritnamen Tamrapanni.

4 Da die Pariser Geistlichkeit verbot, daß Voltaire in der Hauptstadt begraben wurde, mußte er in der Abteikirche von Scellières in der Champagne beigesetzt werden, deren Abt, Abbe Mignot, sein Neffe war. Der Einspruch des Bischofs von Troyes gegen seine dortige Bestattung kam zu spät. 1791 wurde die Leiche auf Beschluß der Nationalversammlung nach Paris übergeführt und mit großem Pomp im Pantheon beigesetzt.