<244> der Leiden die der Freuden überwiegt; ihre Meinungen sind so verschieden wie ihre Gesichter. Statt sich zu verfolgen, weil nicht alle das gleiche denken, sollen sie sich darauf beschränken, das Urteil der im Irrtum Befangenen durch Gründe zu berichtigen, nicht aber Feuer und Schwert zu Hilfe zu nehmen. Kurz, sie sollen sich gegen ihre Nächsten so betragen, wie sie wünschen, daß man sie behandle. Ist es nun Voltaire, der so spricht, oder der Apostel Johannes, oder ist es die Sprache des Evangeliums? Stellen wir nun die praktische Moral der Heuchler oder der falschen Eiferer daneben. Sie drückt sich wie folgt aus: „Rotten wir die aus, die anders denken, als wir wünschen. Schlagen wir die zu Boden, die unsren Ehrgeiz und unsre Lasier enthüllen. Gott sei der Schild unsrer Ungerechtigkeit. Mögen die Menschen sich zerfleischen, mag Blut stießen, was liegt daran, wenn nur unser Ansehen wächst? Machen wir Gott unversöhnlich und grausam, damit die Zolleinnahmen für das Fegefeuer und das Paradies unsre Einkünfte vergrößern.“ Derart dient die Religion oft nur den Leidenschaften der Menschen zum Vorwand, und durch ihre Verderbtheit wird die reinste Quelle des Guten zur Quelle des Bösen.

Da die Sache Voltaires eine so gute war, wie wir eben zeigten, so erhielt er den Beifall aller Tribunale, an denen die Vernunft mehr Gehör fand als mystische Sophismen. So sehr er auch vom Priesterhaß verfolgt ward, er unterschied stets zwischen der Religion und denen, die sie entehren. Stets ward er den Geistlichen gerecht, die durch ihre Tugenden der Kirche wahrhaft zur Zierde gereichten, und tadelte nur die, die sich durch ihre Sittenverderbnis zum Abscheu der Welt machten.

So verbrachte Voltaire sein Leben zwischen den Verfolgungen seiner Neider und der Begeisterung seiner Bewunderer, ohne daß der Spott der einen ihn demütigte und ohne daß der Beifall der andren ihm eine höhere Meinung von sich selbst beibrachte. Er begnügte sich damit, die Welt aufzuklären und durch seine Werke die Liebe zu den Wissenschaften und zur Menschheit zu verbreiten. Nicht zufrieden damit, Moralvorschriften zu geben, predigte er das Wohltun durch sein eignes Beispiel. Sein mutiger Beistand kam der unglücklichen Familie des Calas zu Hilfe1. Er trat für Sirven ein und entriß ihn den barbarischen Händen seiner Richter2. Er hätte den Chevalier de La Barre von den Toten erweckt, hätte er die Gabe, Wunder zu tun, besessen3. Wie schön ist es, wenn ein Philosoph aus seiner Zurückgezogenheit die Stimme erhebt, wenn die Menschlichkeit, deren Anwalt er ist, die Richter zwingt, ungerechte Urteile umzustoßen! Hätte Voltaire nur diesen ein-


1 Jean Galas, ein protestantischer Kaufmann in Toulouse, wurde 1762 gerädert, weil die Geistlichkeit ihn beschuldigte, seinen Sohn, der Selbstmord begangen hatte, ermordet zu haben. Dank Voltaires unermüdlichen Bemühungen wurde er 1765 rehabilitiert und seine Familie entschädigt.

2 Sirven, ein Protestant aus Castres, wurde angeklagt, seine Tochter ertränkt zu haben, weil sie katholisch geworden war, und 1764 verurteilt. Unter persönlicher Gefahr setzte Voltaire 1771 die Freisprechung Sirvens und seiner Familie durch.

3 Der junge Chevalier de La Barre und zwei Freunde waren 1765 beschuldigt worden, ein Kruzifix verstümmelt zu haben. Er wurde 1766 hingerichtet. Voltaire versuchte umsonst, seinen Mitverurteilten d'Etallonde zu rehabilitieren.