<218> des Lehrers würdig. La Mettrie wandte seinen ganzen Scharfsinn auf die Erkenntnis und Heilung der menschlichen Leiden und wurde ein großer Arzt, seit er es sich vornahm. In seinen Mußestunden übersetzte er 1734 Boerhaves Abhandlung über das Feuer, dessen Aphrodisiacus und schrieb selbst eine Abhandlung über die venerischen Krankheiten1. Die alten Ärzte in Frankreich erhoben sich gegen einen Neuling, der so dreist war, ebensoviel zu wissen wie sie. Einer der berühmtesten Pariser Ärzte erwies ihm die Ehre, sein Werk zu kritisieren, ein sicheres Zeichen, daß es gut war. La Mettrie schrieb eine Entgegnung, und um seinen Gegner erst recht zu entwaffnen, verfaßte er 1736 eine Abhandlung über den Schwindel2 die alle unparteiischen Ärzte schätzten.

Bei der menschlichen Unvollkommenheit ist leider niedrige Scheelsucht zum Attribut der Gelehrten geworden. Die Leute von begründetem Rufe sind gereizt über die Fortschritte aufstrebender Geister. Dieser Rost setzt sich an ihre Talente an, ohne sie zu zerstören, aber er schadet ihnen bisweilen. La Mettrie, der in der Wissenschaftlichen Laufbahn mit Riesenschritten vordrang, litt unter dieser Scheelsucht, und seine Lebhaftigkeit machte ihn doppelt empfindlich dagegen.

Nach St. Malo zurückgekehrt, übersetzte er Boerhaves „Aphorismen“, die „Matière médicale“, die „Procedes chimiques“, die „Théorie chimique“ und die „Institutionen“ desselben Autors3. Fast zugleich veröffentlichte er einen Auszug aus Sydenham4. Durch frühe Erfahrung hatte der junge Arzt gelernt, daß Übersetzen bequemer ist als eigne Produktion. Aber das Kennzeichen der Genies ist die Unbelehrbarkeit. Im Gefühl seiner eignen Kraft, wenn ich so sagen darf, und erfüllt von den Ergebnissen der Naturforschung, die er mit ungemeinem Geschick betrieb, wollte er seine nützlichen Entdeckungen der Welt mitteilen. Er veröffentlichte eine Abhandlung „Über die Pocken“, seine „Médecine pratique“5 und sechs Bände Kommentare zur „Physiologie“ von Boerhave6, die sämtlich in Paris erschienen, obwohl sie in St. Malo geschrieben waren. Mit der Theorie der Heilkunst verband er eine stets glückliche Praxis, was für einen Arzt kein kleines Lob ist.

Im Jahre 1742, anläßlich des Todes seines alten Lehrers Hunauld, kam La Mettrie nach Paris. Die Herren Morand und Sidobre verschafften ihm eine Stellung beim Herzog von Grammont, und kurz darauf besorgte ihm dieser ein Patent als Militärarzt bei der Garde. Er begleitete den Herzog in den Krieg, machte die Schlachten von Dettingen (1743) und Fontenoy (1745) und die Belagerung von Freiburg (1744) mit. Bei Fontenoy fiel sein Beschützer durch einen Kanonenschuß.


1 Traité du feu, 1734; Système sur les maladies vénériennes, 1735.

2 Nouveau traité des maladies vénériennes, 1739: Traité du vestige, 1737.

3 Aphorismes sur la connaiset la cure des maladies, 1738; Traité de la matière médicale, 1739: Abrégé de la théorie chimique, 1741; Institutions de médecine, 1740.

4 Thomas Sydenham (1624 bis 1689), berühmter englischer Arzt.

5 Traité de la petite vérole, 1740; Observations de médecine pratique, 1743.

6 Wohl die „lnstitutions et aphorismes, avec un commentaire“ (1743).