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La Mettrie empfand diesen Verlust um so schmerzlicher, als ihn zugleich sein Glück verließ. Die Ursache war folgende. Während der Belagerung von Freiburg befiel ihn ein hitziges Fieber. Krankheit ist für einen Philosophen stets eine Schule der Physik. Er glaubte wahrzunehmen, daß die geistigen Fähigkeiten lediglich von der Beschaffenheit unsrer Körpermaschine abhängen und daß Unordnungen in deren Getriebe beträchtlichen Einfiuß auf den Teil unsres Selbst haben, den die Metaphysiker „Seele“ nennen. Diese Ideen erfüllten ihn während seiner Genesung. Er leuchtete mit der Fackel der Erfahrung kühn in die Finsternisse der Metaphysik hinein, suchte mit Hilfe der Anatomie das feine Gestecht des Verstandes zu entwirren und fand dort, wo andre ein höheres, unsioffliches Etwas vorausgesetzt hatten, bloße Mechanik. Seine philosophischen Mutmaßungen ließ er unter dem Titel „Zur Naturgeschichte der Seele“1 drucken. Der Feldgeistliche des Regiments schlug Lärm gegen ihn, und sofort erhoben alle Frömmler großes Geschrei.

Die große Masse der Priester gleicht Don Quichotte, der in den alltäglichsten Er, eignissen wunderbare Abenteuer sah, oder dem Chevalier Folard2, der so von seinem System erfüllt war, daß er in allen Büchern, die er las, Angriffskolonnen fand. Die meisten Priester prüfen alle literarischen Erzeugnisse wie theologische Abhandlungen. Da sie an weiter nichts denken, wittern sie überall Ketzerei. Daher so viele falsche UrteUe, so viele meist unangebrachte Angriffe gegen die Schriftsteller. Ein phyfi, lalisches Buch muß mit dem Geist eines Physikers gelesen werden. Vor dem Richter, stuhl der Natur und der Wahrheit muß es freigesprochen oder verurteilt werden. Ein gleiches gilt von astronomischen Werten. Beweist ein armer Arzt, daß ein starker Stock, hieb auf den Kopf den Geist verwirrt oder daß der Verstand sich bei gewissen Wärme, graben trübt, so muß man ihm das Gegenteil beweisen oder stillschweigen. Beweist ein geschickter Astronom trotz Iosua, daß die Erde und alle Himmelskörper um die Sonne kreisen, so muß man ihm entweder im Rechnen überlegen sein oder dulden, daß die Erde sich dreht.3

Aber die Theologen, die durch ihre beständige Besorgnis bei schwachen Seelen den Glauben erwecken könnten, daß ihre Sache schlecht sieht, setzen sich über dergleichen hinweg. Auch hier wollten sie in einer physikalischen Abhandlung durchaus den Samen der Ketzerei finden. Der Verfasser wurde grausam verfolgt, und die Pfaffen blieben da, bei, daß ein der Ketzerei beschuldigter Arzt die französische Garde nicht kurieren dürfe.

Zum Haß der Frömmler gesellte sich die Scheelsucht seiner Nebenbuhler. Sie brach mit neuer Heftigkeit aus, als La Mettrie ein Wert „Die Politik der Ärzte“4 erscheinen ließ. Ein ränkesüchtiger, von Ehrgeiz verzehrter Mann strebte nach der Stellung des ersten Leibarztes des Königs von Frankreich. Um sie zu erlangen, hielt er es für hinreichend, die unter seinen Kollegen lächerlich zu machen, die als Mitbewerber um


1 Histoire naturelle de l'âme, 1745.

2 Vgl. die Vorrede des Königs zum Auszug aus den Kommentaren des Chevalier Folard zur Geschichte des Polybios (Bd. VI).

3 Vgl. S. 89. 163.

4 Politique du médecin de Machiavel, 1746.