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Es ist also bewiesen, daß Tatlust die Mutter aller Verbrechen ist. Daraus folgt, daß Trägheit, Müßiggang und Nichtstun die Anlagen sind, die uns der Tugend am nächsten bringen. Stürzt doch Tätigkeit oder Bewegung Leib und Seele in Gefahr: den Leib, denn wer nicht geht, kann nicht fallen; wer sich nicht dem tückischen Meer anvertraut, kann nicht von seinen Fluten verschlungen werden; wer sich in seinem Bette vergräbt und sein Zimmer hermetisch verschließt, hat nichts von der Gicht zu fürchten, die der Luftzug im Hause zeitigt, noch von den Leiden, die die frische Luft erzeugen kann1; und wer nicht im Wagen fährt, kann nicht umschlagen. Diese Wahrheiten sind zu klar, als daß man Beweise auf Beweise zu häufen brauchte. Zu ihrer Bestätigung genügt es, das Sprichwort eines geistreichen Volkes anzuführen. Die Italiener sagen: chi sta bene, non si muova2.

Ihr berühmten Faulenzer, die Ihr durch wohlbedachten Müßiggang alle Segnungen des Nichtstuns kennt, wähnt nicht, wir hätten den Gegenstand schon erschöpft! Man muß auch beweisen, daß Bewegung der Körperwelt ebenso schädlich ist wie der sittlichen Welt. Die ganze Natur lehrt es uns. Der erste beste Gegenstand, auf den mein Blick fällt, beweist es mir. Seht Ihr, wie die Luft vom Nordwind gepeitscht wird? Er schwellt und bläht die Wetterwolken, die über unsrem Haupte donnern und aus ihren schwarzen Weichen Blitzsirahlen, Feuersbrünste und Tod senden. Ebenso ruft die heftig bewegte Luft Stürme, Wirbelwinde und furchtbare Orkane hervor und treibt die Trümmer gescheiterter Schiffe und die Leichen ertrunkener Seeleute durch die empörten Wogen. Woher kämen Erdbeben und Vulkanausbrüche, wenn nicht von unterirdischen Stürmen, die durch die Hohlräume der Erde tosen und die Zündstoffe im Erdinnern entfachen? Dann treiben sie sie mit furchtbarem Getöse den Spalten zu, aus denen ihre Wut hervordringt und sich in Flammensirömen über die Gefilde ergießt.

Aber mag man solche Erscheinungen auch für seltene Unglücksfälle halten, die nur zeitweise eintreten und somit wenig zu fürchten sind: Man sieht doch auch sonst, daß die Bewegung das zerstörende Prinzip der Natur ist. Ihr Wesen besteht darin, daß sie unsre Organe abnutzt, die Triebfedern des Lebens durch beständige Spannung erschlafft, Krankheitskeime anhäuft, die Ursachen des Todes vorbereitet, kurz, die Atome, aus denen wir bestehen, scheidet, um sie durch eine neue Metamorphose zu neuen Wesen zusammenzusetzen. Bewegung und Veränderung sind unzertrennlich verbunden. Da nun Tätigkeit der Anlaß jeder Veränderung ist und all unser Unglück von der Unbeständigkeit der Dinge kommt, so folgt daraus mit Notwendigkeit, daß die Summe des Schlechten in dieser Welt weit größer ist als die des Guten, und daß die Tätigkeit mehr verderbliche als ersprießliche Ereignisse herbeiführt. Es ist also offenbar, daß die glücklichste Neigung des Menschen die zur Trägheit und daß Nichts, tun ein Verdienst ist; denn der erste Schritt zur Tugend ist die Abwendung vom Laster.


1 Vgl. dazu das Gedicht des Königs: An d'Argens' Bett (Bd. X).

2 Wem es gutgeht, der rühre sich nicht.