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„Zu meinem großen Erstaunen“, erwiderte Philant, „beginne ich einzusehen, daß die meisten Irrtümer bei den einmal darin Befangenen unausrottbar sind. Ich habe Ihnen aufmerksam und mit Vergnügen zugehört und, wenn ich nicht irre, die Ursachen des Irrtums, die Sie mir angaben, wohl behalten. Es waren das, wie Sie sagten, der weite Abstand der Wahrheit von unsern Augen, das geringe Wissen, die Schwachheit und Unzulänglichkeit unsres Verstandes und die Vorurteile der Erziehung.“

„Vortrefflich, Philant! Sie haben ein ganz göttliches Gedächtnis. Gefiele es Gott und der Natur je, einen Sterblichen zu bilden, der ihre erhabenen Wahrheiten zu fassen vermag, so wären Sie es gewiß, Sie, der ein so umfassendes Gedächtnis mit so lebhaftem Geist und sicherem Urteil vereint.“

„Bitte, keine Komplimente!“ erwiderte PHUant. „Mir liegt mehr an philosophischen Gedankengängen als an Ihren Lobsprüchen. Es kommt hier garnicht darauf an, mir eine Lobrede zu halten, sondern für den Dünkel aller Gelehrten ehrlich Buße zu tun und unsre Unwissenheit in Demut zu bekennen.“

„Ich werde Ihnen wacker beistehen, Philant, wenn es gilt, unsre tiefe und krasse Unwissenheit aufzudecken. Ich gestehe sie gern ein, ja ich gehe bis zum Pyrrhonismus1 und finde, wir tun sehr gut daran, wenn wir den sogenannten Erfahrungswahrheiten mehr Zweifel als Glauben entgegenbringen. Sie sind da auf gutem Wege, Philant. Der Skeptizismus sieht Ihnen nicht übel an. Pyrrhon hätte im Lykeion2 nicht anders geredet als Sie. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich ein ziemlicher Anhänger der Akademie3 bin. Ich betrachte die Dinge von allen Seiten. Ich zweifle und bleibe unentschieden: so allein kann man sich vor Irrtum bewahren. Bei diesem Skeptizismus mache ich zwar keine Riesenschritte, wie Okeanos bei Homer, der Wahrheit entgegen, aber er behütet mich doch vor den Schlingen der Vorurteile.“

„Und warum fürchten Sie den Irrtum,“ erwiderte Philant, „da Sie ihn ja so gut verteidigen?“

„Ach!“ versetzte ich, „manch holder Irrtum verdient den Vorzug vor der Wahrheit. Die Irrtümer erfüllen uns mit angenehmen Vorstellungen, überhäufen uns mit Gütern, die wir nicht besitzen und niemals genießen werden. Sie sind unsre Stütze im Unglück. Ja selbst im Tode, wenn wir schon im Begriff sind, alle Güter und das Leben selbst zu verlieren, eröffnen sie uns die Aussicht auf Güter, die den Vorzug vor denen verdienen, die wir aufgeben. Sie tauchen uns in Ströme von Seligkeiten, die uns den Tod selbst noch versüßen, ja ihn liebenswert machen könnten, wenn das möglich wäre. Dabei fällt mir die Geschichte eines Geisteskranken ein,“


1 Pyrrhon, griechischer Philosoph, Begründer der älteren skeptischen Schule (um 360—270 v. Chr.). Pyrrhonismus gleichbedeutend mit Skepsis.

2 Die Lehrstätte des Aristoteles in Athen.

3 Ursprünglich die Lehrstätte des Plato, dann die von ihm gestiftete Schule. Hier ist die sogenannte mittlere Akademie gemeint, die eine skeptische Tendenz verfolgte, wenn auch nicht mit der Entschiedenheit Pyrrhons.