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„„Die Grundstoffe alles Seienden und die Triebfedern der Natur sind entweder zu zahllos oder zu klein, als daß der Philosoph sie wahrnehmen oder erkennen könnte. Daher der ewige Streit über die Atome, über die unendliche Teilbarkeit der Materie, über das Volle und das Leere, über die Bewegung, über die Art der Weltregierung — lauter dornenreiche Fragen, die wir nie lösen werden. Der Mensch scheint sich selbst anzugehören. Mich dünkt, daß ich mein eigener Herr bin, mich erforsche und kenne. Allein ich kenne mich nicht. Noch ist es unentschieden, ob ich eine Maschine bin, ein Automat, den die Hand des Schöpfers bewegt, oder ein freies, vom Schöpfer unabhängiges Wesen. Ich fühle, daß ich die Fähigkeit habe, mich zu bewegen, und weiß doch nicht, was Bewegung ist, ob ein Attribut oder eine Substanz. Der eine Gelehrte schreit mir entgegen: sie ist ein Attribut. Der andre schwört darauf, sie sei eine Substanz. Beide streiten, die Höflinge lachen, die Götter der Erde verachten sie, und das Volt weiß nichts von ihnen und vom Gegenstand ihres Streites. Heißt das nicht, die Vernunft aus ihrem Wirkungskreise reißen, indem man sie mit so unbegreiflichen abstrakten Dingen beschäftigt? Mir scheint, unser Geist ist zu so grenzenlosem Wissen nicht fähig. Wir sind wie Leute, die an einer Küste entlang segeln. Sie bilden sich ein, das Ufer bewege sich, nicht aber ihr Schiff, und doch ist es gerade umgekehrt: das Ufer sieht fest, sie aber werden vom Winde getrieben. Stets verführt uns unsre Eigenliebe. Alle Dinge, die wir nicht begreifen können, nennen wir dunkel, und alles heißt unverständlich, sobald es außer unsrer Sphäre liegt. Aber es ist nur die Beschränktheit unsres Verstandes, die uns zu tieferer Erkenntnis unfähig macht.

„Unleugbar gibt es ewige Wahrheiten. Allein, um sie zu begreifen, um auch ihre kleinsten Ursachen zu erforschen, müßte unser Gedächtnis millionenfach größer sein, müßte man sich ganz der Erkenntnis einer einzigen Wahrheit widmen, müßte so alt werden wie Methusalem, ja noch älter, müßte beständig spekulieren und Erfahrungen sammeln, müßte schließlich eine geistige Anspannung haben, deren wir nicht fähig sind. Urteilen Sie nun, ob der Schöpfer die Absicht hatte, uns zu weisen Geschöpfen zu machen. Denn diese Hindernisse scheinen doch aus seinem Willen hervorzugehen, und die Erfahrung lehrt, daß wir wenig Fassungsvermögen, wenig Streben besitzen, daß unser Geist zur Erkenntnis der Wahrheit nicht durchdringt, daß unser Gedächtnis nicht weit und zuverlässig genug ist, um all die Weisheit zu fassen, die ein so schönes und mühseliges Forschen erfordert.

„Es gibt aber noch ein andres Hindernis für die Erkenntnis der Wahrheit. Ja, die Menschen haben es sich selbst in den Weg gelegt, als wäre dieser an sich nicht schon schwierig genug. Das Hindernis liegt in den Vorurteilen unsrer Erziehung. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hat offenbar falsche Grundsätze. Ihre Physik ist sehr mangelhaft, ihre Metaphysik taugt garnichts, ihre Moral besieht aus schmutzigem Eigennutz und grenzenlosem Hängen an den irdischen Gütern. Was sie große Tugend nennen, ist kluger Vorbedacht für die Zukunft und Sorge für die künftige Wohl-“