<217>

Betrachtungen über den politischen Zustand Europas
(9. Mai 1782)

Seit den Verbindungen, die der Kaiser mit Rußland eingegangen ist, hat Preußen auf das Bündnis mit der Kaiserin Katharina nicht mehr zu zählen217-1. Sie glaubt vielleicht, sie könne es gleichzeitig mit zwei Mächten217-2 halten, die durch ihre widerstreitenden Interessen zu Feinden wurden; das ist aber unmöglich. Der Kaiser begnügt sich nicht damit, daß er die Kaiserin von Rußland in seine Netze gezogen hat. Um dle Verbindung auch für die Zukunft zu sichern, hat er mit Hilfe der Württemberger den jungen Hof gänzlich unter seinen Einfluß gebracht217-3. Mag der Großfürst durch diese Kabale völlig in Fesseln gelegt sein oder nicht, dem Kaiser ist das gleichgültig, weil er zu gegebener Zeit in Rußland eine Revolution erregen kann, wodurch die Großfürstin auf den Thron gelangen würde, die ihm nach dem, was ganz Wien sich erzählt, in Liebe verbunden ist.

Indem ich nun dem Verhalten des Kaisers Schritt für Schritt nachgehe, entdecke ich darin viel kluge Voraussicht. Er wird ruhig bleiben und keinen großen Schlag tun, ehe er Ordnung in seine Finanzen gebracht hat. Man sieht es ja, wie er beflissen ist, aus allem Geld zu ziehen: er streicht die Zivilpensionen, hebt in seinen Staaten die Klöster auf, kurz, er sucht alle erfindlichen Mittel auszunutzen, um seine Kassen zu füllen, seine Schulden zu begleichen und sich eine furchtgebietende Stellung zu schaffen, wie seit Ludwigs XIV. besten Tagen kein europäischer Fürst sie besaß. Er hat dies Werk eben erst begonnen, zur Durchführung braucht er ein paar Jahre; also wird er seine Gelegenheit abwarten. Auch wenn man weder Wahrsager noch Prophet ist, läßt sich's leicht prophezeien, daß er sich vorgenommen hat, die preußische<218> Monarchie vollständig zu zertrümmern, um widerstandslos seine despotische Herrschaft in Deutschland aufzurichten. Er wird ruhig meinen Tod abwarten, bevor er Hand ans Werk legt: darum lautet die einzige Weisung an seinen Berliner Gesandten, er solle achthaben auf meinen Gesundheitszustand und ihm hierüber zuverlässige Nachrichten senden.

Sobald ich nicht mehr sein werde und seine Fonds genugsam angewachsen sind, daß er einen langen, kostspieligen Krieg unternehmen kann, wird er Rußland gegen Preußen aufzustacheln suchen, indem er die Streitigkeiten vergiftet, dle immer wieder mit der Stadt Danzig218-1 und um die Besitzungen etlicher Polen an der Netze oder im Kulmer Land218-2 aufleben. Was ihn selbst angeht, so wird er die Grenzen Schlesiens schikanieren, entweder mit neuen Zöllen oder mit Streitigkeiten, die zwischen dem Grenzerpack und den schlesischen Kaufleuten leicht anzustiften sind. Mit den Sachsen wird er, vielleicht beim Tod des Markgrafen von Bayreuth218-3, Zank um das Lausitzer Lehen218-4 anfangen, und da er Rußlands sicher ist, wird er sich der Erbfolge Preußens widersetzen. Mit einem Wort: wenn er bloß einen Vorwand braucht, um Händel zu erregen, so wird er ihn leichtlich finden, und unser unglückliches Land wird einerseits von den Russen in Ostpreußen angegriffen werden, andrerseits von den Österreichern, in Schlesien oder in der Lausitz und Sachsen, mit der Absicht, geradenwegs auf Berlin vorzudringen.

Das wäre die Darstellung der Gefahren, von denen wir bedroht werden. Sie sind so gewaltig und von solcher Bedeutung, daß die größte Geistesanspannung erforderlich ist und alle Quellen der Vorstellungskraft erschöpft werden müssen, wenn wir die Mittel finden wollen, diesem Orkan standzuhalten oder das Ungewitter noch rechtzeitig zu beschwören. Wiewohl man auf seine Verbündeten nicht mehr als auf sich selbst rechnen soll, so müssen wir doch Bündnisse herbeizuführen suchen, um wenigstens eine Art von Gleichheit zu erreichen und ein Gegengewicht gegen die Übermacht der Feinde, damit man ihnen auf allen Seiten mindestens Kräfte entgegenstellen kann, die den feindlichen nicht gar zu sehr nachstehen.

Ich will zunächst untersuchen, was von Deutschland zu erhoffen ist. Da sehe ich den Kurfürsten von Mainz218-5 an das Haus Österreich verkauft, das Kurfürstentum Köln im Begriff, in die Hände eines Erzherzogs zu fallen218-6; das trierische ist außerstande, eine Rolle zu spielen. Bayer und Pfälzer sind Sklaven des Protonsuls Lehr-

<219>

bach219-1, der sie regiert, wie der Römer Popilius den König Antiochus von Syrien219-2. Der Herzog von Württemberg219-3, sehe ich, geht nach Wien, um das Fürstindiplom für seine Geliebte219-4 zu erlangen und den Kurfürstenhut zu fordern. Es bleibt also in ganz Deutschland keiner als der Kurfürst von Sachsen219-5 auf den man rechnen könnte, und ferner nur der Kurfürst von Hannover219-6, sowie Braunschweig und Hessen, die allenfalls für einen Bund mit Preußen empfänglich wären.

Wende ich mich nach Polen, so höre ich bloß von Intrigen, die der Wiener Hof dort betreibt, um eine Partei zusammenzubringen. Seine Absicht ist dabei unzweifelHaft, nach der Kriegserklärung mit Hilfe dieser Partei Feindseligkeiten gegen unsere Provinzen zu begehen. Wir müssen also notwendigermaßen darauf bedacht sein, uns innerhalb der polnischen Republik Anhänger zu gewinnen, um entweder die Pläne unserer Feinde zu durchkreuzen oder, was noch vorzuziehen wäre, ihnen offen entgegenzutreten.

Wenn wir uns Frankreich zukehren, so finden wir da einen schwachen König219-7, der in ein paar Jahren sich gewöhnt haben wird, das Joch seiner Gemahlin219-8 geruhig zu tragen, finden Minister, die der bloße Gedanke einer wirklichen Regierung erzittern läßt, und eine österreichische Partei, die, um den Wert des Bündnisses zu steigern, erklärt: alle Erfolge der Franzosen im gegenwärtigen Krieg219-9 seien der glücklichen Verbindung zuzuschreiben, die den Kaiser mit ihrem König einige und ihnen die Möglichkeit gebe, alle Kräfte gegen den ständigen Feind des Gallierreiches219-10 aufzuwenden. Wollte die Kaiserin von Rußland sich darauf versteifen, ihren schönen Plan des griechischen Kaiserreichs219-11 bald ins Werk zu setzen, so wäre das der einzige Fall, in dem der Kaiser — da er sich gegen die Pforte erklaren müßte — den Franzosen einen stichhaltigen Vorwand zum Bruch des Bündnisses mit hem Wiener Hof liefern würde. Solange jedoch dies Ereignis nicht eintrifft, dürfen wir uns nicht einbilden, wir könnten zuverlässige Verbindungen mit Frankreich eingehen.

Bleibt England. Seit Bute außer Spiel gesetzt ist219-12, gehören Verbindungen zwischen England und Preußen wieder ins Reich der Möglichkeiten, da das neue Londoner Ministerium rechtschaffen und uns gewogen ist. Das bedeutet freilich bloß ein günstiges Vorurteil. Wir müssen die Untersuchung weiter ausdehnen und vor<220> allem erst erfahren, ob England nach dem Friedensschluß220-1 imstande sein wird, seinen Verbündeten beizustehen, oder ob der Staat durch seine Erschöpfung, gleichsam durch politische Lähmung, zu völliger Untätigkeit verdammt wird. Sollte England nicht gänzlich entkräftet sein, so könnte es uns die Unterstützung durch hannöversche, hessische und braunschweigische Truppen verschaffen. Die könnten dann den Unternehmungen entgegengestellt werden, die Österreich mit Hilfe des Kurfürsten von Köln vielleicht gegen den preußischen Besitz am Rhein und in Westfalen richten würde. Andrerseits wird Frankreich nach dem Ende dieses Krieges ebenfalls eine sparsame Finanzwirtschaft nötig haben, um die übermäßigen Kosten auszugleichen, die ihm der Krieg verursacht hat.

Der Krieg, den ich voraussehe, wird also in der Hauptsache zwischen Preußen einerseits, Österreich und Rußland andrerseits zu führen sein, vorausgesetzt, daß nicht mittlerweUe günstige Ereignisse eintreten, die unsere Lage vorteilhafter gestalten, sei es, daß Frankreich und Österreich sich entzweien, sei es, daß der Kaiserin von Rußland die Augen aufgehen, der Kaiser oder die Großfürstin stirbt oder irgend etwas Ähnliches sich begibt.

Auf unverhoffte Vorgänge darf man aber niemals zählen. Ohne auf Glücksfügungen zu bauen, wollen wir lediglich mit den Hilfsmitteln rechnen, wie kluge Staatskuns sie uns zu bieten vermag, um uns wieder in gute Verfassung zu bringen. Ich gebe hier ein paar Ideen. Wenn das österreichische Delirium auch nach dem allgemeinen Friedensschluß fortfahren sollte, in Versailles die Köpfe zu verwirren, so müßten wir auf diese Leute220-2 verzichten, immerhin aber ohne völlig mit ihnen zu brechen. Wir könnten ihnen sogar Artigkeiten sagen, auch wenn wir bei unserem Bedürfnis nach Bundesgenossen gezwungen sein sollten, uns an England zu wenden. Die Allianz mit England wäre auf alle Fälle nur ein Notbehelf; doch könnte man immerhin einige Vorteile in Deutschland daraus ziehen. Warum sollten wir dann nicht auf einen Dreibund zwischen uns, den Türken und den Engländern hinarbeiten? Liegen wir mit Rußland und Österreich im Krieg, so können wir uns keine günstigere Diversion erhoffen, als von seilen der Türken. Diese Nation ist uns wohlgeneigt, und ich glaube, in Ermangelung eines Besseren fänden wir da eine Unterstützung, die keineswegs zu verachten wäre.

Jedenfalls ist es noch nicht an der Zeit, zu handeln, sofem man nicht von den bösen Absichten der Kaiserin überzeugt ist. Handeln wir zu geschwind, so arbeiten wir nur für den Kaiser und liefern ihm einen Vorwand, uns die Kaiserin vollends zu entfremden; das wäre ein äußerst unkluges Vorgehen. Um jedoch für den Notfall Fürsorge zu treffen, habe ich das Erforderliche eingeleitet, unserer Korrespondenz nach Konstantinopel ewen neuen Weg zu bahnen: unsere wichtigen Briefe werden über Warschau an den Pascha von Chozim gelangen, der sie auf Befehl der<221> Pforte nach Konstantinopel befördert. Wir würden zuviel aufs Spiel setzen, wenn wir Depeschen von solcher Bedeutung über Wien und Ungarn gehen ließen.

Dies sind im großen Ganzen meine Gedanken über die Zukunft. Ich will freilich nichts versäumen, will keine Mühen noch mein bißchen Scharfsinn sparen, um diese unheilvollen Weissagungen von unseren Häuptern abzuwenden. Wenn aber nach meinem Tod mein Herr Neffe221-1 in seiner Schlaffheit einschlummert, sorglos in den Tag hineinlebt, wenn er verschwenderisch, wie er ist, das Staatsvermögen verschleudert und nicht alle Fähigkeiten seiner Seele neu aufleben läßt, so wird Herr Joseph — ich sehe es voraus — ihn über den Löffel barbieren, und binnen dreißig Jahren wird weder von Preußen noch vom Haus Brandenburg mehr die Rede sein: der Kaiser wird alles verschlungen haben und sich schließlich ganz Deutschland Untertan machen, dessen souveräne Fürsten er allesamt ihrer Macht berauben will, um daraus eine Monarchie wie die französische zu formen. Alle meine Wünsche gehen dahin, daß die Ereignisse meine Prophezeiungen Lügen strafen, meine Nachfolger als verständige Leute ihre Pflicht erfüllen und das Geschick den größeren Teil des dräuenden Unheils von uns wende.


217-1 Im Mai 1781 hatte Kaiser Joseph II. ein Verteidigungsbündnis mit Katharina II. geschlossen. Die preußisch-russische Allianz dauerte nach dem Buchstaben noch bis 1788 fort.

217-2 Österreich und Preußen.

217-3 Maria Feodorowna, die Gemahlin des Großfürsten Paul, war eine württembergische Prinze sin. Ihre jüngste Schwester, Prinzessin Elisabeth, war auf Betreiben Josephs II. mit seinem Neffen, Erzherzog Franz, dem nachmaligen Kaiser Franz I. von Österreich, verlobt. Ende 1781 hatte das großfürstliche Paar den Wiener Hof besucht. Großfürst Paul war ein großer Anhänger Preußens.

218-1 Auf Grund der Verträge über die Erste Teilung Polens hatte der König den Danziger Hafen in Besitz genommen und einen preußischen Zoll eingeführt, dessen Anerkennung Danzig verweigerte.

218-2 Wie der Weichselzoll bildete die Festsetzung des Grenzzugs von Westpreußen eine ständige Streitfrage mit Polen.

218-3 Markgraf Alexander von Ansbach-Bayreuth († 1806) war kinderlos. Österreich fürchtete den Heimfall der Marlgrafentümer an Preußen.

218-4 Im Frieden von Prag (1635) hatte Österreich die Lausitz als böhmisches Mannslehen an Kursachsen abgetreten. Sachsen gehörte seit dem Bayerischen Erbfolgekrieg zu Österreichs Gegnern.

218-5 Friedrich Karl Joseph.

218-6 Im Sommer 1780 war Erzherzog Maximilian, der jüngste Bruder Josephs II., zum Koadjutor von Köln und von Münster gewählt worden.

219-1 Der österreichische Gesandte am pfälzisch-bayerischen Hofe.

219-10 England.

219-11 Das alte griechische Kaiserreich mit der Hauptstadt Konstantinopel sollte als russische Sekundogenitur unter Konstantin, dem zweiten, 1779 geborenen Sohne des Großfürsten Paul, begründet werden.

219-12 Am 20. März 1782 war das alte Ministerium unter Lord North gestürzt. In ihm erblickte König Friedrich den Fortsetzer und das Werkzeug Lord Butes, dem er den Sonderfrieden von 1762 (vgl. S. 213, Anm. 2) nicht verzeihen konnte.

219-2 Antiochus IV. (175—163) mußte das von ihm fast ganz eroberte Ägypten auf Verlangen des römischen Gesandten Popilius Laenas räumen.

219-3 Herzog Karl Eugen (vgl. S. 200 ff).

219-4 Franziska von Hohenheim.

219-5 Friedrich August.

219-6 Georg III.

219-7 Ludwig XVI. (1774—1793).

219-8 Maria Antoinette, die jüngste Schwester Kaiser Josephs II.

219-9 Zwischen England und seinen Kolonien in Amerika (1775—1783), mit denen sich die Franzosen 1778 verbündet hatten.

220-1 Mit den Kolonien in Amerika.

220-2 Die Franzosen.

221-1 Der nachmalige König Friedrich Wilhelm II.