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Betrachtungen über den politischen Zustand Europas
(9. Mai 1782)

Seit den Verbindungen, die der Kaiser mit Rußland eingegangen ist, hat Preußen auf das Bündnis mit der Kaiserin Katharina nicht mehr zu zählen1. Sie glaubt vielleicht, sie könne es gleichzeitig mit zwei Mächten2 halten, die durch ihre widerstreitenden Interessen zu Feinden wurden; das ist aber unmöglich. Der Kaiser begnügt sich nicht damit, daß er die Kaiserin von Rußland in seine Netze gezogen hat. Um dle Verbindung auch für die Zukunft zu sichern, hat er mit Hilfe der Württemberger den jungen Hof gänzlich unter seinen Einfluß gebracht3. Mag der Großfürst durch diese Kabale völlig in Fesseln gelegt sein oder nicht, dem Kaiser ist das gleichgültig, weil er zu gegebener Zeit in Rußland eine Revolution erregen kann, wodurch die Großfürstin auf den Thron gelangen würde, die ihm nach dem, was ganz Wien sich erzählt, in Liebe verbunden ist.

Indem ich nun dem Verhalten des Kaisers Schritt für Schritt nachgehe, entdecke ich darin viel kluge Voraussicht. Er wird ruhig bleiben und keinen großen Schlag tun, ehe er Ordnung in seine Finanzen gebracht hat. Man sieht es ja, wie er beflissen ist, aus allem Geld zu ziehen: er streicht die Zivilpensionen, hebt in seinen Staaten die Klöster auf, kurz, er sucht alle erfindlichen Mittel auszunutzen, um seine Kassen zu füllen, seine Schulden zu begleichen und sich eine furchtgebietende Stellung zu schaffen, wie seit Ludwigs XIV. besten Tagen kein europäischer Fürst sie besaß. Er hat dies Werk eben erst begonnen, zur Durchführung braucht er ein paar Jahre; also wird er seine Gelegenheit abwarten. Auch wenn man weder Wahrsager noch Prophet ist, läßt sich's leicht prophezeien, daß er sich vorgenommen hat, die preußische


1 Im Mai 1781 hatte Kaiser Joseph II. ein Verteidigungsbündnis mit Katharina II. geschlossen. Die preußisch-russische Allianz dauerte nach dem Buchstaben noch bis 1788 fort.

2 Österreich und Preußen.

3 Maria Feodorowna, die Gemahlin des Großfürsten Paul, war eine württembergische Prinze sin. Ihre jüngste Schwester, Prinzessin Elisabeth, war auf Betreiben Josephs II. mit seinem Neffen, Erzherzog Franz, dem nachmaligen Kaiser Franz I. von Österreich, verlobt. Ende 1781 hatte das großfürstliche Paar den Wiener Hof besucht. Großfürst Paul war ein großer Anhänger Preußens.