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Regierungsformen und Herrscherpflichten (1777)

Wir finden, wenn wir auf die fernste Vorzeit zurückblicken, daß die Völker, von denen uns Kunde ward, ein Hirtenleben führten und keinen gesellschaftlichen Körper bildeten. Ein ausreichendes Zeugnis dafür gibt der Bericht der Genesis über die Geschichte der Patriarchen. Vor dem kleinen jüdischen Voll lebten jedenfalls auch die Ägypter sippenweise verstreut in den Gegenden, die der Nil nicht überschwemmte, und es sind ohne Zweifel viele Jahrhunderte verflossen, bevor dieser Strom so weit bezwungen war, daß die Einwohner sich in Dörfern sammeln konnten. Aus der griechischen Geschichte erfahren wir die Namen der Städtegründer und der Gesetzgeber, die das Voll zuerst zu einem Staatskörper zusammenfaßten. Lange blieb auch diese Nation so ungesittet wie alle Bewohner unseres Erdballs.

Wären die Annalen der Etrusker, der Samniten, Sabiner u. a. auf uns gekommen, so würden sie uns sicherlich lehren, daß diese Völler in Familienverbände zersplittert waren, bevor sie sich sammelten und Einheiten wurden. Die Gallier bilbeten schon, ehe Julius Cäsar sie unterwarf, größere Gemeinschaften. Dagegen war Großbritannien, scheint es, noch nicht so weit entwickelt, als derselbe Eroberer zum erstenmal mit den römischen Truppen hinüberging. Die Germanen standen zur Zeit dieses großen Mannes erst auf der Stufe der Irokesen, der Algonkins und ähnlicher wilder Völkerschaften; sie lebten nur von Jagd und Fischfang und von der Milch ihrer Herden. Ein Germane glaubte sich zu erniedrigen, wenn er den Erdboden anbaute; für diese Arbeiten verwendete er seine kriegsgefangenen Sklaven. Überdies bedeckte der Hercynische Wald fast gänzlich die weitgedehnte Länderfläche, die nun Deutschland bildet. Das Volk konnte nicht zahlreich sein, da es an genügender Nahrung fehlte. Zweifellos liegt darin der wahre Grund für die ungeheuren Wanderungen der nordischen Völker, die sich auf den Süden stürzten, um völlig urbar gemachte Länder und ein minder rauhes Klima zu gewinnen.

Man erstaunt, wenn man sich vorstellt, daß das Menschengeschlecht so lange in einem Zustand der Wildheit, ohne staatliche Gemeinschaften zu bilden, hinleben konnte, und eifrig forscht man nach dem Vernunftgrund, der es vermochte, die Menschen so weit zu bringen, daß sie sich zu Volkskörpern zusammenschlossen. Unzweifelhaft haben die Gewalttaten und Plündereien benachbarter Horden in den vereinzelten Sippen