<228> konnte. Heinrich VIII. von England hielt durch sein geschicktes Benehmen die Wage zwischen Karl V. und Franz I.; sonst hätte der Kühnere oder Erfolgreichere von beiden ganz Europa umgewälzt. Seitdem ward die Erhaltung dieses Gleichgewichts das Hauptbestreben der europäischen Politik, und die Schwachen fanden einen Rückhalt gegen die Bedrückungen der Starken. Die neuere Geschichte liefert uns tausend Beispiele dafür. Bald unterstützt Frankreich den Bund der protestantischen Fürsten Deutschlands1, um zu verhindern, daß die Kaiser ihrenDespotismus aufrichten. Bald kommen die Könige von Schweden oder Dänemark der deutschen Freiheit zu Hilfe2. Bald steht ganz Europa dem Haus Österreich bei, dessen Hauptstadt Soliman II. belagern ließ3. In anderen Fällen verbünden sich die Kaiser, England, Holland und fast ganz Europa, um ein Gegengewicht gegen die Übermacht Ludwigs XIV. zu schaffen, der alles an sich zu reißen drohte. Dieser weisen Politik danken wir den Bestand der verschiedenen europäischen Regierungen. Sie war ein Damm, der sich dem Überfluten des Ehrgeizes stets entgegenschob.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß Europa mit einem Schlage dies Gleichgewicht verloren hat,und zwar zu einer Zeit, wo es seiner vielleicht am dringensten bedurfte. Vielleicht ist es eine Folge dieses plötzlichen Systemwechsels, der uns wie ein Theatercoup vorkam. Und doch sprach viel dafür, daß es den Herrschern ebenso ergehen würde, wie den Flüssigkeiten, die die Chemiker in eine Phiole einschließen: nachdem sie eine Weile durcheinander gewirbelt sind, setzen sie sich mit der Zeit von selbst, je nach der ihnen innewohnenden Schwere. Allein es ist ganz anders gekommen; denn die Ursachen in der Natur bleiben stets die gleichen, wogegen die Gründe, die im Rate der Fürsten entscheiden, von den menschlichen Leidenschaften abhängen.

Nun werden Sie selber beurteilen können, welche verderblichen Wirkungen dies Monarchen komplott haben kann, diese Verschwörung, die Ihnen so reizvoll dünkt! Gelingt es den Herrschern, die Könige von England und Preußen zu zerschmettern, so werden sie solchen Geschmack daran bekommen, daß die Zuschauer bald das gleiche Los ereilt, und diese mächtige Liga wird in Europa einen unerträglichen tyrannischen Despotismus aufrichten, der für alle Nationen gleich schmachvoll ist. Wohin käme dann die Sicherheit des Besitzes? Welcher Herrscher wäre seines Thrones sicher? Müßte nicht jeder befürchten, daß er von heute auf morgen entthront wird, und daß seine Staaten ihm entrissen werden? Königreiche, Kurfürstentümer, Republiken, kleine Regierungen, alle führten dann nur ein unsicheres Dasein und würden schließlich von dem Schlund der vorherrschenden Mächte verschlungen. Die Herrscher, die in diesem Kriege ganz von selbst hätten Partei nehmen müssen, sind sämtlich isoliert oder neutral geblieben. Keiner von ihnen hat an den Wahlspruch unter dem Pfeilbündel im holländischen Wappen gedacht: Meine Kraft liegt in meiner Einigkeit. Ihre Sicherheit erscheint mir trügerisch; sie glauben, der Friede sei ihnen vorläufig


1 Gegen Karl V.

2 Im Dreißigjährigen Kriege (vgl. Bd. l, S. 39 ff.).

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