<212>

Vielleicht denkt mancher, man brauche also nur mächtig und unbeschränkt zu sein, um Ich ganz dem Wahnsinn seiner Launen hinzugeben, seinen Willen zum Gesetz zu machen und, da man ja unverletzlich ist, alles mit Füßen zu treten, zumal niemand wagen wird, seine Stimme gegen so unerträgliche Mißbräuche der Macht zu erheben.

Ihnen antworte ich dreist: ich gebe zu, daß alle, die zeitlebens auf der höchsten Stufe der Macht über den Gesetzen stehen, gewiß eines Zügels bedürfen, damit sie ihre Gewalt nicht zur Unterdrückung der Schwachen mißbrauchen oder Ungerechtigkeiten begehen. Aber unwissende und obskure Skribenten sind nicht zu Lehrmeistern der Könige berufen. Da gibt es eine andere Lehrerin, die ihnen wirklich ihre Pflichten zeigt, ihr Urteil spricht und ihnen ungeschminkt sagt, was das Volk von ihnen denkt und denken soll: ich meine die Geschichte. Sie schont keinen der Gefürchteten, vor denen die Erde erzitterte. Sie richtet sie, billigt ihre guten Taten, verdammt die schlechten und belehrt so die Fürsten über alles, was an ihnen einst gelobt und getadelt werden wird.

Das Urteil über die Toten sagt den Lebenden, was sie dereinst zu erwarten haben, und welchen Klang ihr Name in der Nachwelt haben wird. Vor diesem Richterstuhle müssen alle Großen nach ihrem Tode erscheinen; da wird ihr Ruf auf ewig festgestellt. Die Geschichte ersetzt den Brauch der Ägypter, bei denen die verstorbenen Bürger von einem Tribunal abgeurteilt wurden, das über ihr Tun und Lassen richtete und ihnen das Begräbnis versagte, wenn ihre Taten verbrecherisch befunden wurden. Die Nachwelt ist unparteiisch. Sie kennt weder Neid noch Schmeichelei, läßt sich weder durch Lobreden noch durch Schmähschriften verblenden und unterscheidet echtes Gold von schlechter Münze. Die Zeit, die auch die geheimsten Dinge aufdeckt, entschleiert die Handlungen der Menschen und ihre Motive; sie zeigt einen Minister nicht von Höflingen beweihräuchert, einen König nicht von Schmeichlern umringt, sondern den Menschen ohne alle Ausschmückungen und ohne die eitlen Verkleidungen, die ihn verbargen. Wer aber weiß, daß er diesem Gericht nicht entgehen kann, muß sich darauf vorbereiten, ohne Flecken vor ihm zu erscheinen. Der Ruf ist alles, was uns nach dem Tode bleibt; es ist kein Zeichen von Hochmut, um ihn besorgt zu sein; er soll uns vielmehr sehr am Herzen liegen, sofern wir nur etwas edle und hohe Gesinnung besitzen.

Die echte Ruhmesliebe ist die Triebfeder aller Heldentaten und alles Nützlichen, was auf Erden geschieht. Warum ließe sich ein Mensch wohl im Dienste des Vaterlands töten, wenn nicht, um das Lob der Überlebenden zu ernten? Warum mühen sich Schriftsteller und Künstler, wenn nicht, um Beifall zu verdienen, sich einen Namen zu machen und Unsterblichkeit zu erringen? Das trifft in dem Maße zu, daß Cicero1, den die gleiche Glut beseelte, bemerkt, daß nicht nur die Schöngeister des Altertums, sondern auch die Philosophen der strengsten Sekten ihren Namen den Werken voransetzen, die von der Eitelkeit alles Irdischen handeln.


1 Pro Archia poeta, cap. XI.