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77. Epistel an den Grafen Hoditz
Trostschreiben an einen Siebzigjährigen245-1
(1774)

Ich sah Euch, lieber Graf, in Trauer;
Das Alter zu ertragen, wird Euch sauer.
Ihr wäret gern, wie Ihr Euch einst gezeigt.
Kraft und Gesundheit fesseln wir vergebens;
Vergehn, verwehn — das ist das Los des Lebens!
Die Eigenliebe klagt, der Weise schweigt.
Packt fünf Jahrzehnte und noch zwanzig Winter
Dem Mars auf — welch ein Iammermann!
Nehmt Herkules als siebzigjährig an:
Er schlottert, und sein Nachfahr sieht dahinter,
Der frech die Keule schwingt. So untergräbt
Die Zeit das Stärkste! Freut Euch, daß Ihr lebt!
Wie wenige bringen's bis zu Euren Jahren!
Ihr habt sie gut verwandt, was wollt Ihr mehr?
Seid dankbar für das Glück, das Ihr erfahren.

Und will nicht ganz so, wie bisher,
Die Welt Euch neue Freuden offenbaren,
Und fühlt Ihr Euch nicht ganz so auf der Höh',
Wo sonst manch holder Sieg Euch ward verliehen,
Denkt, daß Voltaire und Richelieu
Jetzt auch nicht mehr zum Paphostempel ziehen ...

Wenn unser Weißhaar wir beschauen,
Die Runzeln und das Gliederzittern —
Kann das noch Eindruck machen auf die Frauen
<246>Und zarte Herzen gar erschüttern?
Sie würden unsre Wünsche nicht verstehen.
Laßt ab vom Gott, der Euch schon längst verlassen!
Wir müssen uns in Gleichmut fassen
Und Jüngere an unserm Platze sehn.

Freigebig stets ist die Natur,
Und jedem Alter gönnt sie sein Vergnügen.
Im Lebenslenz ist uns, als ob wir nur
In unsern Füßen alle Wonne trügen
Bei Sprung und Tanz und Dauerlauf;
Doch später geht die Glut im Herzen auf.
Im Sommer unsres Lebens steigt das Feuer
Zum Hirn empor, und mit erhitzten Sinnen
Will man erträumten Sieg gewinnen;
Dem Ehrgeiz ist kein Heldenkampf zu teuer.
Des Lebens Winter löscht den letzten Brand,
Dann tröstet uns der kühlere Verstand.
So schafft Natur in ewigen Wunderzeichen
Für jede Lebenszeit ein andres Glück.
Die Menschensaat wächst, dorrt und fällt zurück;
Der hellste Tag muß vor der Nacht erbleichen.
Zeigt denn Vernunft! Und seht es ein,
Wenn liebe Stunden langsam weichen:
Im Winter kann nicht Frühling sein ...

Die Kunst lädt Euch in ihren Tempel ein,
Hier findet Ihr Genuß und Zweck verbunden,
Hier labt Euch noch in sorgenfreien Stunden
Des Sonnenunterganges milder Schein.
Der Glanz der Eitelkeit ist hingeschwunden,
Nur edler Freuden ungetrübtes Glück
Bleibt im Gedächtnis Euch zurück,
Und Ihr genießt ein ruhig Leben
Und braucht vorm Tode nicht zu beben.


245-1 Den Anstoß zu der „Epistel“ gab ein Besuch, den Hoditz (vgl. S. 231 ff.) während der schlesischen Revuereise im August 1774 dem König in Neiße abstattete. „Ich sah dort Hoditz,“ schreibt Friedrich am 19. September an Voltaire; „er war früher so heiter, jetzt ist er traurig und melancholisch; er kann der Natur nicht die lästigen Gebrechen verzeihen, die das Alter mit sich bringt.“