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40. Über den Zufall
An meine Schwester Amalie
(September 1757)118-1

Nein! Bilde dir nicht ein, daß Menschenleid
Zu Gott heranreicht und er Huld uns gönnte.
Er sieht zu hoch in seiner Seligkeit,
Als daß ihn irgend etwas rühren könnte.
Gott hört nicht unsre Wünsche, unser Flehn,
Und wenn wir auf Altären Opfer zünden.
Kein Weihrauch wird ihm unser Fühlen künden,
Er läßt uns weder Lohn noch Strafe sehn.
Sein Blick ist auf das Große eingestellt.
Dem Erdball und der Sterne lichtem Chor,
Die ihre Bahn ziehn durch die weite Welt,
Schreibt er die ewigen Gesetze vor.

Allein, so fragst du, welche Macht denn waltet,
Die unser Los so mannigfach gestaltet?
Wenn Gott nicht unser Erdenschicksal lenkt,
Nicht Lohn und Strafe über uns verhängt
Und wägt, was uns an Lust und Leid geschieht —
Wird da der Mensch des eignen Glückes Schmied?
Ist denn der Spruch Voltaires als wahr erkannt:
„Wo Dummheit scheitert, triumphiert Verstand!“

Nicht möcht' ich, liebe Schwester, allzu grämlich
Und durch das eigne Mißgeschick beirrt,
Verleugnen, daß mitunter sehr vernehmlich
Die Klugheit unsre Mitberatrin wird.
<119>Natur, die jedem leichte Gunst gewährt,
Geizt doch mit Gaben, die von höherm Wert.
Wohl siegte am Gramkos, wie wir wissen,
Des Staatsmanns Einsicht und des Feldherrn Kunst,119-1
Cäsar gewann in Rom die Oberhand,
Weil Mut und Klugheit sich in ihm verband.
Auch Mohammed steigt aus der Zeiten Dunst
Und Wasa, gleichen Heldentums beflissen.
Doch aus Jahrtausenden, die hingegangen,
Mit all den großen Taten, die sie künden —
Wie wenig Namen konnten Ruhm erlangen,
Weil selten sich Verdienst und Glück verbünden!

Wer sieht ihn nicht, den ungeheuren Schwall
Von Namenlosen, Narren, Idioten,
Die dumm und faul, nie einen Wert geboten
Und doch zu Ansehn kamen überall,
Und die, verblendet von dem eignen Prunk,
Frech und voll Dünkel jede Huldigung
Der Unterdrückten sich gefallen lassen,
Indessen Klügre nirgends Boden fassen!

So, Schwester, ist die Welt des Zufalls Reich.
Er straft und segnet. Einem Dämon gleich
Vorsehung spielt er, und wir müssen's tragen.
Nicht soll es jene blinde Kraft besagen,
Die launisch, ohne Wahl und Plan, im trüben
Bereich des Zaubers Heidengötter üben.
Doch Zufall nennt sich das geheime Spiel,
Von Ursachen, das im Verborgnen waltet,
Nie oder doch zu spät sich uns entfaltet
Und irrführt, bis man ihm zum Opfer fiel.

Der Philosoph weiß: Aus dem Mutterschoß
Der Ursachen ringt jede Tat sich los,
Und erst, wenn das Ereignis sich vollzogen,
Wird Grund und Folge streng von ihm erwogen.
Der aufgeblasne Staatsmann glaubt, sein Licht
<120>Durchdring' der Zukunft Nacht, doch blind dem Scheine
Folgt er und stolpert über Stock und Steine
Und fällt, ein Opfer blöder Zuversicht.
Er wußte mit den wunderlichen Launen
Der Könige nichts Rechtes anzufangen,
Und kein Prophet war da, ihm zuzuraunen:
Die Fährte dort ist Würger Tod gegangen!
Mit jedem Herrscher ändert sich die Welt,
Der Erbe will nach eignem Sinne schalten,
Kein Sohn, der an des Vaters Weg sich hält!
Es folgen neue Irrungen den alten!...

Wo Neid und wo Begierde Grausiges brütet,
Wo schrankenlos der wilde Aufruhr wütet,
Dort gährt's, wie sturmgepeitschter Ozean.
Des Staates Schisslein tanzt auf schwanken Wellen,
Treibt hin und her, um schließlich zu zerschellen,
Und Tote kreisen um geborstnen Kahn.
Wie kommt's, daß einem hier die Segel schwellen,
Wo Wind den andern ins Verderben blies,
Und daß, wo einer auf die Klippen stieß,
Andre gefahrlos ihrem Hafen nahten?
Klugheit ist Kunst, das Richtige zu erraten!
Das zeigt uns die Geschichte vieler Staaten ...

Man schau', was Liebeswahn zuwege bringt:
Von einer Schar der schönsten Fraun umringt,
Läßt Ludwig, kühl selbst gegen Herzoginnen,
Sich leicht von eines Wuchrers Kind umspinnen;
Er liest sie auf aus muffigem Straßenstaube,
Die Pompadour! Sie wird in seiner Hut
Ein Amboise120-1 in der Weiberhaube
Und Frankreichs Atlas, drauf das Volkswohl ruht.
Die sonst vielleicht den Venustempel zierte,
Ist des Bourbonensohns privilegierte
Machthaberin und lenkt Europas Los.

Wer hätt' aus Vogelfiug und Sternen bloß,
Und hätte sie den Weisesien befragt,
<121>Wer hätt' den Aufstieg ihr vorhergesagt?
Sie wuchs im Dunkel auf, das nichts verhieß.
Erst eine Heirat schuf ihr Paradies.121-1
Erfahrung hat die Augen uns geschärft,
Wir sehn, wie an den Höfen Schranzentum
Sich breitmacht und der Dirnenschaft zum Ruhm
Verhilft, die alles aussaugt und entnervt.
Wir sehn, wie Heuchler Könige besiechen
Durch hinterlistige Förderung ihrer Schwächen.
Bei solchem Werk, das oft ein ganzes Reich
Zerstört, sind Sklaven und Tyrannen gleich ...

Doch mehr als bei der höfischen Intrige
Hängt man von Schicksalslaunen ab im Kriege.
Wie ernsthaft man um den Erfolg sich müht,
Der siegt nur, dem der Schlachtengott gewogen;
Wenn einem unverdienter Lorbeer blüht,
Der andre wird um sein Verdienst betrogen.

Auf dieser edlen Laufbahn läßt der Held
Vom Zufall sich nicht schrecken. Doch sein Ringen
Und Kämpfen wird den Unstern nicht bezwingen,
Auch wenn er sein Genie entgegenstellt.
Den Ausschlag gibt der unbekannte Haufen,
Auf seinem Heer beruht des Feldherrn Heil.
Dem Führer wird Schimpf oder Preis zuteil,
Wenn Feige oder Tapfere für ihn raufen.
Niemals nach den Erfolgen sollte man
Den Feldherrn werten, sondern nach dem Ziele
Und nach dem Geist, mit dem im Zufallsspiele
Des Kampfes er auf jeden Vorteil sann.
Man schaue sich darauf die Kämpen an!

Als Prinz Eugen, der sieggewohnte Held
Vor Belgrad lag,121-2 dacht' er, von Mut geschwellt,
Mit Leichtigkeit das Bollwerk zu erstürmen,
Die Türken fortzuwehn von Wall und Türmen.
<122>Plötzlich fällt der Wesir ihm in den Rücken,
Das Heer der Christen sieht sich eingepreßt,
Die Donau wehrt den Rückzug. Zu den Tücken
Der Hungersnot gesellt sich rasch die Pest.
Verzweiflung rings! Und Prinz Eugen erkennt,
Daß seinem Tun ein zorniges Schicksal fluche.
Mit einem letzten mutigen Versuche
Wägt er, ob Tod ihm oder Sieg vergönnt.
Er stürzt sich auf den Feind mit kühnem Wagen,
Bald ist das Türkenheer zerstreut, geschlagen.
Zwar wehrte lange sich mit tapfrer Hand
Der Großwesir; sein Plan schien ihm zu glücken,
Das Zünglein auf des Schicksals Wage stand —
Dann aber wandte ihm das Glück den Rücken.
So wurde ihm Erfolg und Ruhm geraubt:
Viktoria kränzte Prinz Eugen das Haupt...

So narrt der Zufall. Unberechenbar
Und launisch läßt er Toren leicht vollbringen,
Was Klugen häufig unerreichbar war.
Wem ist's vergönnt, die Zukunft zu durchdringen?
Vergeblich auch ist menschliches Beginnen,
Dem uns beschiednen Schicksal zu entrinnen.

Wie glänzte Marlborough vor allen andern!
Bei ihm hieß Kämpfen Siegen. Keine Beste
Hielt stand, wenn sie sein Eisenarm umpreßte.
Des Rheins Befreier, Sieger über Flandern,
Das geistige Haupt in Englands Parlament,
Wird er von einer Masham durch den bloßen
Haß eines Hoffräuleins, das niemand kennt,
Gestürzt, und damit werden umgestoßen
Die Pläne auch von zwanzig andern Mächten,
Die mit Britannien im Bunde fechtend.122-1

Und wie erging es jener stärksten Flotte,
Die je das Meer auf seinem Rücken trug?
<123>Gen Albion steuerte der Schisse Bug,
Und Schutz erhoffte es von keinem Gotte.
Schon sah es sich im Joch, dem Feind zum Spotte,
Da — blies ein Wind, der Mast um Mast zerschlugt!123-1

Das Jammervollste zeigt uns die Geschichte
Der unglückseligen Stuarts. Wilde Söhne
Des Pittenstammes zwangen rauh die schöne
Maria, daß sie auf den Thron verzichte.
Bei Englands Königin sucht die Arme Heil,
Gerät in Kerkersnot und unters Beil.
Und nach dem blutigen Fall besteigt der Sohn
Mariens123-2 Englands mächt'gen Thron,
Doch schnell verging auch dieser Glanz.

Mit seinen glaubensstrengen Völkern mußte
Der schwache König Karl123-3 manch schlimmen Tanz
Besiehn. Als Gegner tritt der selbstbewußte,
Tollkühne und verschlagne Cromwell123-4 auf.
Gewaltmensch! Hart ist seines Herzens Kruste,
Und kein Gewiffensdruck hemmt seinen Lauf.
Wer ihm im Weg, den richtet er zugrunde
Und ruft für jede Schandtat Gott zum Bunde
Und steigert seinen Haß zur höchsten Wut
Und taucht die Hand in seines Königs Blut.
So zeigt es sich, daß keine Erdenwürde
Und nicht erhabne Abkunft Schutz gewährt,
Wo ein Rebell das Hoheitsrecht entehrt.

Jakob der Zweite trug des Zepters Bürde
Noch kürzre Zeit. Tochter und Schwiegersohn123-5
Vertrieben diesen Schwächling rasch vom Thron.
Den Kampf des jungen Eduard sahn wir alle!
Nach halbem Siege kam er schnell zu Falle,123-6
<124>Er irrt von Land zu Land nun in Bedrängnis —
Als echten Stuart zeigt ihn sein Verhängnis.

Nach Rußland seht: wie rührt uns Iwans Los!
Er wurde unter Schicksalsschlägen groß,
Ein wollusttrunken Weib bringt über Nacht
Den armen Wicht um Thron und Herrschermacht 124-1
Und gibt ihn der sibirischen Wildnis bloß.
So wählt sich das Geschick elende Zeugen,
Verworfne Helfershelfer, uns zu beugen.

Daß ich in frühen Jahren Glück erfuhr:
Nicht mein Verdienst, ein Zufall war es nur!
Ich strebte nach dem Ruhme der Heroen
Voll Leidenschaft und jungem Überschwang.
Dem Müßiggange bin ich rasch entflohen
Zum Feld, wo man um blut'ge Lorbeern rang.
Der Erste, dem ich dort begegnen muß,
War ein gelehriger Schüler des Eugen,
Erfahren, wie nur ein Sertorius,
Dem alle Künste zur Verfügung siehn.
Eh' ich erkannt, was Neipperg mit mir plante,
Eh' ich von seinem Anmarsch etwas ahnte,
War ich von seinen Truppen schon umstellt
Und wußte nicht mal, wo der Gegner hält.
Ein Überläufer zeigt mir die Gefahr,
Zeigt Stellung, Stärke, Plan der Gegenschar,
Ich stürme los, es kommt zum Kampf, ich siege.124-2

Fortuna baute mir des Ruhmes Wiege;
Bin ich nun klug, so dank' ich's ihr zumeist.
Doch darf man dieser Wankelmütigen traun?
Bald schenkt sie ihre volle Gunst dem Daun,124-3
Und ich mit meiner Fahne steh' verwaist.
Um recht brutal mich zu verhöhnen, stellt mir
Die Ungetreue bis ins Alter nach,
Wirft mich auf Klippen, droht mir Sturz und Schmach,
Zermürbt mich! Feder, ach! und Schwert entfällt mir!...
<125>Der Feind bleibt immer rührig, und er trägt
Mit finstern Plänen sich, uns anzufallen.
Nun heißt's: Kampf oder Schmach! Die Stunde schlägt!
Nun braucht's des Helden, dessen Vorbild allen,
Vom ersten bis zum letzten, Mut gewährt.
So streckt am Euphratsirom der Palmenbaum
Die Krone trotzig in den freien Raum,
Wenn Sturmgewitter durch die Lande fährt
Und in der Flut, die jach emporgestiegen,
Das Rohr zerbricht und sich die Binsen biegen ...


118-1 Nur eine spätere Fassung dieser Epistel aus dem Januar 1760 ist uns überliefert.

119-1 Alexander der Große besiegte 334 v. Chr. die Perser am Granilos.

120-1 Der Kardinal Amboise war der Premierminister König Ludwigs XII. von Frankreich.

121-1 Erst ihre Vermählung mit Charles Gmllaume Le Normand d'Etioles bahnte für Ieanne Antoinette Poisson, die illegitime Tochter des Generalpächters de Normand de Tournehem und spätere Marquise de Pompadour, den Weg, der sie 1745 an die Seite Ludwigs XV. führte.

121-2 1717.

122-1 Nach dem Sturze Marlboroughs im Sommer 1710 (vgl. Bd. l, S.116; VII, S.104) kam es zwischen England und Frankreich zu geheimen Verhandlungen und im Oktober 1711 zu einem Präliminarfrieden zwischen beiden Staaten, dem im Frühjahr 1713 der Friede von Utrecht und die Anerkennung des Herzogs Philipp von Anjou als König von Spanien folgte.

123-1 Die Vernichtung der spanischen Armada (1588).

123-2 Jakob I. (1603—1625).

123-3 Karl I. (1625—1649).

123-4 Für Cromwell vgl. Bd. I, S. 90; IX, S. 119.

123-5 Prinz Wilhelm III. von Oranien und seine Gemahlin Maria bestiegen 1689 den englischen Thron.

123-6 Karl Eduard Stuart, der Sohn des Prätendenten Jakob Eduard, war im Juli 1745 in England gelandet und nach anfänglichen Erfolgen (vgl. Bd. II, S. 244 f.) am 27. April 1746 bei Culloden entscheidend geschlagen worden.

124-1 Der junge Zar Iwan VI. (geboren am VI.. August 1740) wurde in der Nacht zum 6. Dezember 1741 von Elisabeth, der jüngsten Tochter Peters des Großen, entthront (vgl. Bd. II, S.5. 60 und 96 f.).

124-2 Schlacht bei Mollwitz, in. April 1741 (vgl. Bd. II, S. 71 ff.).

124-3 Bei Kolin (vgl. S. 114)