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40. Über den Zufall
An meine Schwester Amalie
(September 1757)1

Nein! Bilde dir nicht ein, daß Menschenleid
Zu Gott heranreicht und er Huld uns gönnte.
Er sieht zu hoch in seiner Seligkeit,
Als daß ihn irgend etwas rühren könnte.
Gott hört nicht unsre Wünsche, unser Flehn,
Und wenn wir auf Altären Opfer zünden.
Kein Weihrauch wird ihm unser Fühlen künden,
Er läßt uns weder Lohn noch Strafe sehn.
Sein Blick ist auf das Große eingestellt.
Dem Erdball und der Sterne lichtem Chor,
Die ihre Bahn ziehn durch die weite Welt,
Schreibt er die ewigen Gesetze vor.

Allein, so fragst du, welche Macht denn waltet,
Die unser Los so mannigfach gestaltet?
Wenn Gott nicht unser Erdenschicksal lenkt,
Nicht Lohn und Strafe über uns verhängt
Und wägt, was uns an Lust und Leid geschieht —
Wird da der Mensch des eignen Glückes Schmied?
Ist denn der Spruch Voltaires als wahr erkannt:
„Wo Dummheit scheitert, triumphiert Verstand!“

Nicht möcht' ich, liebe Schwester, allzu grämlich
Und durch das eigne Mißgeschick beirrt,
Verleugnen, daß mitunter sehr vernehmlich
Die Klugheit unsre Mitberatrin wird.


1 Nur eine spätere Fassung dieser Epistel aus dem Januar 1760 ist uns überliefert.