<97>Er wechselt gleichwie Proteus die Gestalt,
Schillert in hundert Farben mannigfalt:
Woran erkennst du, wie er dir gesinnt,
Ob er dich liebt, ob haßt und Ränke spinnt?
Leicht läßt sich in der Tiere Mienen lesen,
Ob sie uns freund, ob feindlich und verstellt.
Das sanfte Lamm grast blökend auf dem Feld,
Der Löwe brüllt und zeigt ein stolzes Wesen,
Der wilde Eber schäumt vor Wut,
Der Hase läuft davon in blinder Scheu;
Falsch, tückisch blickt der Tiger, lechzt nach Blut,
Der Hund liebkost den Herrn und ist ihm treu.
Doch uns, geformt von gleicher Schöpferhand,
Uns merkt man weder Tugend an noch Fehle;
Im Engelsleib wohnt eine Teufelsseele:
Der Augenschein narrt ewig den Verstand.

In diesem grausen Zweifel: was ist echt?
Mißtraust du wohl dem ganzen Staubgeschlecht.
Ein finstrer Menschenfeind — nicht ohne Grund —
Fliehst du Gesellschaft, fluchst auf deinesgleichen;
Der Boden scheint bei jedem Schritt zu weichen,
Dich dünkt die Welt ein zweiter Höllenschlund;
Und lebtest du auch bei den Kannibalen,
Nicht schlimmer könntest du dein Loos dir malen.

Ja, die Gesellschaft ist dem Sturz geweiht
Und alles wankt, gebricht's an Redlichkeit.
So wie am Spieltisch schändliche Gesellen
Mit Gaunerkniffen ihre Börse schwellen,
Wär' auch bei uns stets Ebbe oder Flut:
Bald prellten wir, bald würden wir geprellt,
Und brächten wechselnd uns um Hab und Gut.

Du Tor, der viel auf seine Falschheit hält.
Du schmeichelst deinem Lasier, ziehst es groß!
Erschrick! Du sagst dich von der Weisheit los
Und endest noch als ausgemachter Schächer!
Des Bösen Grenzen sind gar leicht verwischt;
Ins Ränkespiel ist schon Verrat gemischt.