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33. Epistel über die Falschheit
(Februar 1750)1

Verflucht sei jener erste Schuldbefleckte,
Der vormals arge Ränke spielen ließ,
Der in den Staub die hehre Wahrheit stieß
Und Falschheit mit der Tugend Firnis deckte!
Den Sonnenstrahl, das helle Licht
Ertrug sein blinzelnd Auge nicht;
Sein schlimmes Werk, im Schutz der Nacht,
Lichtscheu und heimlich ward's vollbracht.

Die Welt nahm sich den Frevler zum Exempel
Und ließ die Wahrheit ohne Kult und Tempel.
Seitdem war bei den Menschen nichts mehr echt:
Die Tugend ward dem Lasier preisgegeben;
Der Lump verlangte Achtung wie ein Recht
Und ließ zum „Höhren Geist“ sich frech erheben.
Freundschaft ward selten; Doppelzüngigkeit
Trug das Gewand treuherz'ger Biederkeit.
In dieser Maske, schwer erkenntlich, barg
Sich wie ein Freund der Schurke, der Verräter.
Und so nasführt die Welt ein Übeltäter
Und meint, sie hätte seines Trugs kein Arg.
Mit Abgefeimtheit, wähnt er, werd's ihm glücken,
Und sicher fühlt er sich durch seine Tücken...

Weh dem, der einem falschen Freunde traut!
Ein grimmer Leu steckt in der Lammeshaut;


1 Die Epistel war im Mai 1740 verfaßt und im Februar 1750 für die Aufnahme in die „Œuvres du philosophe de Sanssouci“ umgearbeitet worden.