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15. An Sweerts101-1
Über die Freuden

Ihr der liebenswürdige Leiter seid
All unsrer Kurzweil und Ergötzlichkeit,
Der Ihr den Tanz Terpsichores
Und Polyhymnias Spiele lenkt,
Den Tränenernst Melpomenes,
Thaliens Munterkeit uns schenkt:
Sagt an, Baron, habt Ihr schon eins bedacht:
Von alledem, was uns erfreut,
Was ist es wohl, das uns beglückter macht,
Dem innern Menschen wohl das meiste beut?
Sagt, ist's der Freudenüberschwang,
Den uns der Karneval beschert,
Den üpp'ge Jugend so begehrt,
Davor den Ehegatten bang?
Wenn unter Masten mannigfach
Das junge Volk, das liebvernarrte,
Begeistert stürmt der Luststandarte
Der holden Cytherea nach?
hei, wie sie all in Flammen stehn,
Jeder entschlossen zuzugreifen!
Dies Springen und Schleifen,
Dies Wirbeln und Drehn,
Der taumelnde Reigen
Beim Klang der Trompeten, der Flöten und Geigen —
Ein Rausch ist's, und alles dahingerissen
Von Genuß zu Genüssen.
Und Aurora, die
Zu Winterzeiten doch wahrlich nie
<102>'ne starke Frühaufsteherin,
Heut hat sie's nach dem Wunsch und Sinn
Der lustigen Jugend mal viel zu eilig —
Obschon zeitweilig
Bereits in Viertelstundenfrist
Von manchem schnell entstammten Galan
In seinem kurzatmigen Liebesroman
Ein böses Aber gefunden ist.

Was meint Ihr? Oder ist es vielleicht
Die Bühnenkunst, der Ihr die Palme reicht?
Allwo die Verschrobenheiten der Zeit
Mit seiner derben Ursprünglichkeit
Abschreckend uns Meister Molière konterfeit?
Ihr empfehlt mir ein neues Schauspiel: „Kehrt ein
„In jenes berückende Zauberschloß,
„Wo das Bühnenbild und der Tanz im Verein
„Mit dem Reize vielstimmiger Melodein,
„Wo ein hundertfältig Genießen
„Zu einer Lust, überwältigend groß,
„Will ineinanderfließen.
„Der Oper gebührt wohl der Freudenpreis,
„Wo alles, Hof und Stadt, wie berauscht
„Dem Meistergesange der Astrua102-1 lauscht,
„Wo alle Herzen zu rühren weiß
„Salimbeni102-2, der Meister der schmelzenden Töne,
„Wo unsre Terpsichore, unsere schöne
„Marianne Cochois ihre Bravos sich
„Beim Publikum einheimst allabendlich
„Und die hohe Kunst ihres Tanzes zusamt
„Dem Reiz der Verführung, der ihr eigen,
„Alle Herzen, die zur Verliebtheit neigen,
„Unrettbar entstammt.“

Ich versteh', und — was ich auch nicht verhehle —
Ich liebe im Grunde meiner Seele
All diese Freuden: Verirrung heißt
Mir die Andacht, die sie uns verleidet, verweist.
<103>Ich denke gut epikureisch und gern
Überlass' ich das Traurigsein
Von der Stoa den grimmigen Herrn.
Ach, daß unserm Herzen, wie weiland Theben,
Doch hundert Tore wären gegeben:
Ich ließe die Freuden groß und klein
In hellen Scharen herein!

Doch was hilft das alles: nicht jedermann
Schaut die Sache mit solchen Augen an.
Sah ich doch, traun,
Schon Herren, die große Nimrode waren,
Mit müden, hochgezogenen Braun
Inmitten von all dem Wunderbaren.
Sie gähnten und schliefen ein, und ihr Geist
War schleunigst nach ihren Iagdgründen verreist;
Dort war er beschäftigt mit Hirschen und Sauen
Und sah im Traum, statt auf Cinna zu schauen,
Die stinken Bracken
Den Schwarzkittel packen.
Ich sah auch auf euren Zuschauersitzen
So manchen Harpagon zappeln und schwitzen,
Im Angsttraum um seine Gelder vergehn,
Nach allen Riegeln und Schlössern sehn,
Sich heimlich im stillen quälen,
Seine Säcke mit Goldstücken abzuzählen.
Höchst eigenartig war auch der Genuß,
Den jener Mathematikus
Für sein Gehirn, das ausgedörrte
Einst im Theater sich erfand —
Sicher ist Euch die Geschichte bekannt:
Ohne daß er was sah oder hörte,
Selbst ohne zu sprechen, macht' er sich dran,
Zu berechnen den Rauminhalt des Saales,
Die Wege und Wirkungen des Schalles,
Die Optik im Theaterhaus,
Das große Oval an der Decke des Baus.
Und als er sein löbliches Wert getan,
Nichts blieb ihm als tödliche Langeweile —
Was geht ihn der Vorgang da oben an!
<104>So daß er, unglaublich! in polternder Eile,
Eh' nur ein Akt zu Ende gespielt,
Sich fluchend empfiehlt.

Gilt's unsere eigenen Neigungen — hei,
Wie sind wir mit Leib und Seele dabei!
Indes uns die Freuden von anderen Leuten
Blutwenig bedeuten.
Weil nun keiner heraus kann aus seiner Haut,
Aus jedem ein anderes Fühlen spricht,
So gönne der eine
Dem andern das seine,
Dieweil ja auch jedes Menschengesicht
Verschieden ausschaut!
Ja, segnen laßt uns die sorgende Macht,
Grad weil ihre gnadeströmenden Hände,
Geschmack und Verlangen vertausendfacht,
Daß jeglicher Wunsch sein Genügen fände.
Gäb's da nicht so viele Verschiedenheiten,
So wär' wohl das bißchen Freude und Spaß —
Das einzige, was
Dem Erdendasein noch gibt seinen Reiz —
Der Born nur des Zankes, des Neids und Streits,
Wütender, grausamer Zwistigkeiten
Ohn' Unterlaß;
So säh man uns Ärmste allerseits,
Nur um ein Freudegelüst zu stillen,
Den Erdboden röten,
Zu Kriegen käm' es und Kriegesnöten —
Einzig um des Vergnügens willen!
Doch meint Ihr, es müssen,
Die Sinne, die trägen
Uns anzuregen,
Gleich wahre Wunder von Hochgenüssen,
Theater und Feuerwerkerein
Oder ähnliche Herrlichkeiten sein?
Als ob nun jeder, dem all derlei
Das Geschick nicht vergönnt,
Mit Fug und Recht sich beschweren könnt',
Daß er zu kurz gekommen sei?
<105>Natur, die getreue, nimmt immerdar
Wachsam all unsrer Bedürfnisse wahr
Bis zum Überfluß:
Erhebt zum Verlangen, was uns fehlt,
Erhebt zur Wonne und zum Genuß,
Was uns zu schaffen macht, was uns quält;
Gab uns der Liebe Lust, — die gleiche
Dem Bauern wie dem Kavalier;
Gab uns die Labe, die segensreiche,
Des Schlummers. Ihr verdanken wir
Die Lust, wenn uns in Dursiesqual
Ein Bächlein rauscht mit einem Mal:
O tiefer Trunk, so kühl und rein,
Köstlicher kann kein Nektar sein.
Verschmachten wir in Hundstagsglut,
Wie tut in dunkler Schatten Hut
Des Waldes frischer Odem gut.
Wohliger denn auf Daunendecken
Behagt's, auf weicher Wiesenau
In guter Ruh' sich hinzustrecken,
Zu träumen in des Sommers Blau.
Und denkt doch, welche Wunderschau
Uns stets im Morgenrot erblüht,
Wie da, kaum daß das Dunkel schwand,
Im Osten schon der Himmelsrand
In reinsten Purpurfarben glüht;
Droben verblassen die Gestirne,
Der Nebel steigt, die Bergesfirne
Erglüht im ersten zagen Strahl
Und schickt ein goldnes Licht zu Tal.
Der Morgenwind die Schwingen hebt
Und weckt die Blumen, und es lebt
Das Menschenherz zur Freude auf,
Und ob der neugebornen Welt,
In allen Tiefen lichterhellt,
Hebt sich der Sonne Siegeslauf.
Wo ist die Wunderkunst, sagt an,
So zaubermächtig ohnegleichen,
Die solche Wirkung je erreichen,
Die solche Schau uns bieten kann?
<106>Malt doch der Sonne Feierpracht,
Wenn ihr die Farben dafür wißt!
Graun,106-1 der der Töne Meister ist —
Das Lied der Sängerin der Nacht,
Das schlichte Gezwitscher der Waldvögelein,
Erweckt vom jungen Tagesschein —
Noch hat er es nicht nachgemacht!
So wird an Schönheit überglänzen
Ein junges Blut von fünfzehn Lenzen
All eure trefflich gemalten Gesichter;
Was hilft der Farbenschmelz, die Lichter,
Was ist mit eurem Schminken getan,
All eurem zierlichen Drum und Dran —
Mit der Natur ringt die Kunst vergebens!

Seht, da habt ihr die Freuden, die holden,
Eines von Unschuld umhegten Lebens.
Dünkt ihre Schlichtheit euch minder golden
Denn eure Spiele und prunkvollen Feste,
Wo alles gestutzt und geregelt aufs beste,
So wißt: man übernimmt sich nicht
An ihnen, dieweil sie so einfach, so schlicht;
Gleichen sie doch einem Bächlein seicht,
Des lichte Welle flink und leicht
Hinplätschert über den silbernen Sand;
Die Au verschönt es, die's durchfließt,
Und segnet weitum alles Land,
Wo alles grünt und blüht und sprießt.
Freilich mit stolzen Brücken kann's
Nicht eben großtun; noch gewann's
Der großen Ströme Amt und Ehr',
Stattliche Schisse zu tragen daher
Mit wehenden Bannern; noch bespült
Sein Wasser die Mauern der großen Städte,
Allwo sich's gar oft in seinem Bette
Von den guten Deutschen geärgert fühlt.
Nichts stört und verdrießt es, nichts hält es auf,
So ist denn gar eben und grade sein Lauf.
<107>Versucht es nur einmal, ich rat' euch in Treuen,
An solchen Gütern der Welt euch zu freuen:
Ich sage euch: keine Gewissenspein
Folgt hinterdrein!
Es ist ein Genießen in Herzensruh;
Auch daß man zuviel des Guten tu',
Ist nie zu besorgen. So kehrt man schließlich,
Ward man der euren müd und verdrießlich,
Sich jenen immer wieder zu.

Hat jedes Alter, das wir durchwandern,
Doch seinen Geschmack, und jedes 'nen andern.
So macht uns alle der Lebensmai
Hörig der Liebestyrannei,
Indes des Daseins Sommerzeit
Der Ehre und dem Ruhm geweiht,
Und mehr nach Nutzen und Gewinn
In herbstlichen Tagen uns steht der Sinn;
Was aber bleibt unsern alten Tagen
Als Grübeln, Brummen und sich Beklagen!
Ein grauer Schädel — und dabei
Tät' er noch mit bei der Mummerei?
Ein runzlig Gesicht,
Und es schämte sich nicht!
Das stünd' ihm an, dem wackligen Alten,
In der Maske zu hüpfen, in Dominofalten
Den Leib zu hüllen, den wunschlos kalten!
Hat Amor doch längst keine Pfeile mehr
Für ihn, für ihn ist sein Köcher leer,
Den seines Leibes Gebrechlichkeit
Von aller süßen Fron befreit.
Wenn frostige Starrheit
Das Herz befiel,
So wird zur Narrheit
Das holde Spiel;
Ach, wenn die Liebe sich von uns kehrt,
Ihr Abschiedsgruß uns gar wenig ehrt!
Nun schimpfen sie, die in besseren Tagen
Anbetend auf den Knien lagen,
Und lästern haßvoll —
<108>Ohnmächtig sind sie nur, nicht maßvoll!
Die Leidenschaften schwanden — mit ihnen
Die Wunder, die einst dem Verliebten erschienen;
Die Sinne sind
Wie taub und wie blind,
Und wenn uns in die Augen fällt
Das Allerholdeste von der Welt,
So ist's, als wenn ein Lustschloß sich
Im Wasser spiegelt: jede Welle
Verlöscht und raubt uns auf der Stelle
Das Bild, wenn sie vorüberstrich.
So wenig hat's Bestand und Halt!
Ja, seht ihr, ist der Mensch erst alt,
So sind des Lebens süßeste Wonnen
Zerronnen.

So laßt uns genießen, ich bin dabei,
Aber den Kopf behalten wir ftei!
Sweerts, und ich sag Euch, am besten ist dran,
Wer sich glücklich davonmachen kann,
Den Hirtenstab wieder zuhanden nimmt
Und fort, zu seinen Gärten, nur fort,
Seinem Wald, seinem Zufluchtsort —
Nachdem er just auf der Szene dort
Durch Muttertränen umgestimmt
Im Lager gesehn den Coriolan;
Oder vorm ganzen Heeresbann
Der Griechen die traurige Königsmaid,108-1
Am Opferaltar schon zu sterben bereit,
Gerettet im letzten Augenblicke!
All dieser Glanz, dies Brimborium
Macht Euch zuletzt ganz taub und dumm,
Zerreißt Euch in Stücke
Seele und Sinn!

Ich bitt' Euch, Baron, wo soll das hin:
Was bin ich verdammt, für ein Leben zu führen,
Eine Irrfahrt ist es, ein Vagabundieren!
<109>Und dabei in dem Wirbel von Hof und Welt
Sich mitdrehn! Ewig umlagert, umstellt
Von jenen müßigen Vielgeschäftigen!
Von dem Kram all, dem Nichts
Voll ernsten Gewichts
Bis oben gefüllt; von dem rauschenden, heftigen
Wildstrom der Vergnügungen mitgerissen,
Über die nur die Mode gebeut,
Wo immer das Gestern gleicht dem Heut —
Ein Nichtstun, das uns mit Ärgernissen
Schier vergiftet das Leben!
Kein Leben, nein! Kein Denken; nur eben
Ein Atmen noch!
Und immer doch
Beeilt, in der großen Welt zu erscheinen,
Wie im Theater! Ich sollte meinen:
Da müßt' Euch vor Euch selber grauen,
Euch selber ins Gesicht zu schauen!

Nein, willst du verkehren mit deinem Ich,
So birg in beschaulicher Stille dich.
Dort, Auge in Auge mit deiner Seele,
Erkennst du dich selber und all deine Fehle.
Seht, so macht ein Weiser Gebrauch von der Zeit:
Er lernt das eigene Selbst verstehn,
Lernt es, mit Härte und Peinlichkeit
Mit sich selbst ins Gericht zu gehn,
Und wird seiner Vorurteile Meister,
Die seine Augen mit Blindheit geschlagen:
Schonungslos jede Verhüllung reißt er
Herunter, die seine Schwäche getragen,
Masken, die er mit großer Gewandtheit
Seinen dummen Streichen einst vorgebunden
Und seiner Launen Überspanntheit.
Fluch ist der Eigenliebe Verranntheit:
Sie schmeichelt und streichelt, und schlägt dabei Wunden!

Ja aber! haltet Ihr mir entgegen:
Die Komödie! Ihr Wert und ihr Segen!
Die Narrheit weiß sie auszupfeifen,
<110>Bessernd ins Leben einzugreifen!
Sehr schön. Und doch, dies tändelnde Spiel
— Oft tut es in Hanswurstpossen zuviel —
Streift unsere Mängel nur obenhin,
Befehdet sie kaum in ernstem Sinn.
Was suchen wir dort?
Ein gelungenes Wort,
Satirisch geschliffen und zugespitzt:
Einer, der im Theater sitzt,
Wird aus 'ner Predigt sich wenig machen —
Er will lachen!

Zeigt mir einen einzigen Lasterhaften,
Den Eure Komödie zur Tugend belehrt!
Dies hehre Amt bleibt ihr verwehrt!
Und wer von trüben Leidenschaften
Im Ernste sich zu bessern begehrt,
Der fang's mit harter Arbeit an.
Nur wer im Innern kämpft und ringt,
Nur wer im Leben sich gewann
Gewissensfrieden,
Nur dem ist Glück und Lohn beschieden.
Mein Sweerts, nur dann
Will ich mich Eures holden Tands erfteuen,
Wenn's gilt, vom Ernst der Arbeit sich zerstreuen.


101-1 Baron Ernst Maximilian Sweerts, Generalintendant der Königlichen Schauspiele in Berlin.

102-1 Siovanna Astrua, Sängerin an der Oper.

102-2 Felicino Salimbeni, Sänger.

106-1 Karl Heinrich Graun, Komponist und Kapellmeister des Königs.

108-1 Anspielung auf die von Graun 1748 und 1749 komponierten Opern „Iphigenie in Aulis“ und „Coriolan“, für die der König selbst den Text verfaßt hatte.