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14. An meine Schwester in Bayreuth94-1
Vom rechten Gebrauch der Glücksgüter

Der Größe Traumbild ist für mich verblaßt;
Stiller Beschaulichkeit ganz hingegeben,
Meid' ich der Menschen Zudrang, Lärm und Hast;
Die Stunden nutzend, die so schnell entschweben,
Genieß' ich tausend Freuden auf dem Land,
Errichte Lauben, lasse Hecken scheren,
Lese La Quintinie,94-2 dank dessen Lehren
Ein grüner Garten sprießt aus dürrem Sand.
Die Blumen, die uns Floras Huld beschieden,
Seh' ich da sprossen, blühn und bin zufrieden.
<95>Mein Freund Philemon, der mich oft beehrt,
Erörtert gern mit mir der Tugend Wert.
Erhitzt dann seine Rede mein Gemüte,
So schmückt mein Geist sie mit dem Reiz der Dichtung;
Das kleinste Ding, ein Blättchen, eine Blüte
Gibt unserm Denken Gegenstand und Richtung.
Natur ist reich an Wundern für uns beide;
Oft sind die Bienen unsre Augenweide.
O Schwester, welche Lust, ihr Werk zu sehn,
Wie sie im Blumenkelch nach Beute spähn,
Wie ihr geteiltes Wirken und ihr Fleiß
Das ganze Völkchen reich zu machen weiß!
Sie schaffen für einander; alle haben
Den gleichen Teil an ihren Honigwaben.

Warum befolgen wir ihr Beispiel nicht?
Erröten müßten wir, so oft wir sie
In höchster Ordnung, reinster Harmonie
Erfüllen sehn die allgemeine Pflicht.
Ihr Staat ist unsern Staaten weit voraus !
Nicht eine ist so stolz und aufgesteigert,
Daß sie der Arbeit Frucht den Schwestern weigert;
Dünkel und Eigennutz sind fremd im Haus.
O Menschenweisheit, aufgeblähter Wahn!
Wie tief dich selbst ein Tier beschämen kann!
Hartherzig sehn wir in des Glückes Schoß
Herab auf unsrer Nebenmenschen Los;
Die Sitten wechseln nach der Art des Stands.
Wir fliehn, geblendet von dem eignen Glanz,
Den schlichten Ursprung, kennen uns nicht mehr.

Wer glaubte, kommt ein Großer stolz daher,
Die Armen sein dem gleichen Stoff entsprossen,
Den Bettlern dort, zerlumpt und gramgebückt,
Sei ganz das gleiche Antlitz aufgedrückt,
Sie seien seine Brüder und Genossen!
Das ist Fortunas Werk; durch Dünkel ward
Er grundverschieden; kein gemeinsam Band
Gibt's, das sich zwischen arm und reich noch spannt;
Wie Tiere sind sie von verschiedner Art.
<96>Sein Wolfsgemüt wird kühl die Falken schauen,
Wie sie das Tal mit Taubenblut betauen.

Mich bost's, daß ein gewisser großer Herr
Sein Herz an Pferde, Hunde gar verschwendet,
Als ob er nur so hoch erhoben wär,
Damit sein Gold in ihrem Bauche endet!
Indes die Pferde nutzlos an der Krippe
Sich mästen, wird der Arme zum Gerippe.
Er schwelgt in Luxus, denkt an sich allein;
Ein leerer Traum ist ihm des Nächsten Pein.
Ja, dieser Mißbrauch hat mich so empört,
Daß ich die Großen und das Glück verachte!

„Du staunst!“ entgegnete mein Freund und lachte.
„Die Welt ist fühllos, undankbar, betört.
„Ich kenne sie nun schon so manches Jahr,
„Seit ich Fortunas Oberpriester war.
„Der Schmeichler blöder Schwarm umdrängte sie,
„Und einen jeden sollte sie beglücken.
„Ein Höfling bat, daß sie ihm Macht verlieh',
„Um einen falschen Freund zu unterdrücken,
„Der stets ihn auszustechen sich erfrechte.
„Der König heischte unterwürf'ge Knechte.
„Ein Stutzer, den sein karges Los verdroß,
„Verlangte Würden und ein prunkend Schloß,
„Und ein Verschwender wünschte große Habe,
„Um sie nach Lust und Laune zu vergeuden.
„Ein Geizhals sprach: Du Bringerin der Freuden,
„Gib Schätze mir, damit ich sie vergrabe!
„Hochmütig rief ein Graf mit frecher Miene:
„Wo bleibt der hohe Rang, den ich verdiene?
„Ich käme nie zum Schluß, erzählt' ich Dir
„Ihr wunderlich Gered in allen Stücken.
„Kurz, keiner dacht' in seiner eitlen Gier
„Der holden, edlen Wonne, zu beglücken,
„Und meine Göttin, unberechenbar
„Und unbesorgt, wen ihre Gabe trifft,
„Versagt' aus Laune, reichte wahllos dar.“
<97>„Das Glück“, versetzt' ich, „ist ein schlimmes Gift.
„Kann es den Geist mit Hirngespinsten nähren,
„So muß sich auch des Besten Sinn verkehren;
„In seinem Wahn glaubt er, ein Gott zu sein,
„Verlangt, daß Weihrauch überall ihm dampfe.
„Die Mächtigen in ihres Hochmuts Krampfe
„Vermeinen, daß die Vorsehung allein
„Für sie erschuf, was auf der Erde lebt
„Und was auf Flügeln durch die Lüfte schwebt.
„Sie fühlen sich als Mittelpunkt der Welt;
„Geht's ihnen gut, ist alles wohlbestellt.
„Zart gegen sich, doch gegen andre hart,
„Vom Glück berauscht, in ihren Rang vernarrt
„Und streng ihn wahrend, gleichen sie den Ästen,
„Die sich aus ihres Stammes Säften mästen
„Und eitle Blätterzier in Fülle treiben,
„Doch uns die süßen Früchte schuldig bleiben.
„Wird denn für sie allein der Saft bereitet,
„Den das Geflecht des Schafts zum Wipfel leitet?
„Ach, welcher Gärtner wird sie klug beschneiden,
„Wenn sie Pomona ihre Gaben neiden?
„Wie schmerzt es mich, es werden immer mehr!“

„Vielleicht, daß manches Herz wohltätig wär',“
Erwiderte mein Freund mit düstren Mienen.
„Doch die verderbte Welt ist voll von Bösen;
„Durch Wohltun ist nur Undank einzulösen:
„Wer Menschen kennt, versagt den Beistand ihnen!“
Wie schön ist's, Freund, sich Undank zu verdienen!
Ist's nötig, wenn es uns zur Tugend drangt,
Daß kaltes Klügeln unsrem Herzen wehrt?
Weise Minerva, Schwester, liebenswert,
Mit allen Herzensgaben reich beschenkt,
Ich weiß, Du denkst: ein edles Herze muß
Wohltätig sein; ihm ist es Hochgenuß,
Wenn es den Menschen, seines Gleichen, spendet,
Was ihm des Himmels Güte zugewendet!

Die Säulen, die ein kluger Architekt
Vor seinen Bau in edler Ordnung stellt,
<98>Sind nicht nur eitler Schmuck; was er bezweckt,
Ist, daß das Ganze fest zusammenhält.
— 's ist auch die Regel des Gesellschaftsbaus!
Zu seinem Halt trägt jeder Bürger bei:
Verschönern reicht nicht hin, ich sag' es frei:
Der Schmuck verziert, die Güte trägt das Haus.

Weltseele du, allmächtige Natur,
Laß dein Geheimnis kühn mich offenbaren!
Du fügst, magst du verschwenden oder sparen,
Zweckvoll ein jedes Ding zum Brauche nur!...

Wie lieb' ich jenes weisen Mannes98-1 Rede,
Als Rom zerklüftet ward von Bürgerfehde!
Zum Heil'gen Berge war das Volk gezogen,
Er glättete beredt des Aufruhrs Wogen.
„Der Staat, Ihr Freunde, ist der Leib“ — so sprach
Der Kluge; „alle Bürger sind die Glieder.
„Erlahmt nur eins, gleich wird das Ganze schwach;
„Gesundheit liegt und Lebenskraft danieder.
„Wenn's nur zu reden unserm Mund behagte
„Und er dem Leibe Speis' und Trank versagte,
„So wär' der Körper, ohne Saft und Kraft,
„Geschwind vom Hungertode hingerafft.
„Ihr Widerspenst'gen, Glieder unsres Staats,
„Seid Bürger! Ehrt den Willen des Senats!“
Wie hoch sich einer auch im Lande schwingt,
Er bleibt vom Ganzen immer doch ein Glied.
Wenn Ihr den Nächsten keine Hilfe bringt,
Der Staat in Euch gelähmte Glieder sieht.
Doch meiden wir den Spott und sein wir mild;
Richten ist leicht; die Kunst ist, zu bekehren.
Mit Freundesrat, nicht wie ein Pfaff, der schilt,
Laßt uns den rechten Brauch der Größe lehren,
Wie man den Dünkel, Rache, Haß verschmäht,
Allein durch seine Güte Macht verrät.
<99>„Nichts kann an Deiner Größe mehr entzücken,
„Als Deine Allmacht, Menschen zu beglücken;
„Nichts hebt Dich mehr empor zur Göttlichkeit,
„Als Deine Güte, ewig hilfsbereit“ —
So sprach einst Cicero zu Cäsars Ehren,99-1
Und alle Könige scheint er zu lehren:
„Um zu beglücken, wurdest Du zum Herrn,
„Dich ziert Dein Glanz, gleichwie des Tages Stern,
„Doch uns erwärmt er, wo er niederfällt.“

Die Großen, die das Glück im Schoße hält,
Verachtet man, ist ihre Seele schlimm.
Den Kaiser Nero traf des Volkes Grimm,
Der Antonine Tugend ward verehrt.
Du, Mark Aurel, mein Vorbild und mein Held,
Anbetungswürd'ger, eines Tempels wert,
Wenn schwache Menschen zu der Götterwelt
Aufsteigen können, dir geschah es so!
Bei deinem Namen fühl' ich, wie die Glut
Der Tugend, die mir tief im Busen ruht,
Empor in Flammen züngelt lichterloh!...

Doch muß zum Wohltun man ein König sein?
Kann nicht ein jeder sich der Tugend weihn?
Oft kann der Ärmste seinem Nächsten nützen;
Der Reiche soll von seinem Überfluß
Den Armen geben, und der Große muß
Mit starkem Arm bedürft'ge Tugend schützen.
Im Wohlstand zeigt sich erst der Seele Guß,
Ob sie voll Geiz, ob sie an Gaben reich:
Der Stand ist wechselnd, doch die Pflicht ist gleich.
So schenkt die zarte Blüte ihren Duft,
Das Feld Getreide und die Bäume Schatten,
Metall der Berge Schoß und Gras die Matten,
Fische das Meer; es kühlt der Wind die Luft,
Der Nordstern weist dem Wandrer seinen Pfad,
Und wenn die Nacht die Welt verschleiert hat,
So dringt des Mondes Leuchte durch das Dunkel.
<100>So füllt den Raum mit seinem Lichtgefunkel
Der Sonnenball, befruchtet und erhält
Das Leben rings auf dieser weiten Welt.


94-1 Vgl. Bd. III, S. 152.

94-2 Jean de La Quintinie (1626—1688), Inspektor der Obst- und Gemüsegärten Ludwigs XIV. und Verfasser eines Wertes über Gartenbau, das lange als mustergültig galt.

98-1 Anmerkung des Königs: „Menenius Agrippa“ (vgl. Bd. VII, S. 83).

99-1 Vgl. Bd. VII, S. 88.