<95>Mein Freund Philemon, der mich oft beehrt,
Erörtert gern mit mir der Tugend Wert.
Erhitzt dann seine Rede mein Gemüte,
So schmückt mein Geist sie mit dem Reiz der Dichtung;
Das kleinste Ding, ein Blättchen, eine Blüte
Gibt unserm Denken Gegenstand und Richtung.
Natur ist reich an Wundern für uns beide;
Oft sind die Bienen unsre Augenweide.
O Schwester, welche Lust, ihr Werk zu sehn,
Wie sie im Blumenkelch nach Beute spähn,
Wie ihr geteiltes Wirken und ihr Fleiß
Das ganze Völkchen reich zu machen weiß!
Sie schaffen für einander; alle haben
Den gleichen Teil an ihren Honigwaben.

Warum befolgen wir ihr Beispiel nicht?
Erröten müßten wir, so oft wir sie
In höchster Ordnung, reinster Harmonie
Erfüllen sehn die allgemeine Pflicht.
Ihr Staat ist unsern Staaten weit voraus !
Nicht eine ist so stolz und aufgesteigert,
Daß sie der Arbeit Frucht den Schwestern weigert;
Dünkel und Eigennutz sind fremd im Haus.
O Menschenweisheit, aufgeblähter Wahn!
Wie tief dich selbst ein Tier beschämen kann!
Hartherzig sehn wir in des Glückes Schoß
Herab auf unsrer Nebenmenschen Los;
Die Sitten wechseln nach der Art des Stands.
Wir fliehn, geblendet von dem eignen Glanz,
Den schlichten Ursprung, kennen uns nicht mehr.

Wer glaubte, kommt ein Großer stolz daher,
Die Armen sein dem gleichen Stoff entsprossen,
Den Bettlern dort, zerlumpt und gramgebückt,
Sei ganz das gleiche Antlitz aufgedrückt,
Sie seien seine Brüder und Genossen!
Das ist Fortunas Werk; durch Dünkel ward
Er grundverschieden; kein gemeinsam Band
Gibt's, das sich zwischen arm und reich noch spannt;
Wie Tiere sind sie von verschiedner Art.