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Die Eigenliebe als Moralprinzip (1770)44-1

Jugend ist das festeste Band der Gesellschaft und die Quelle der öffentlichen Ruhe. Ohne sie wären die Menschen den wilden Tieren gleich, blutdürstiger als Löwen, grausamer und tückischer als Tiger, oder Ungeheuer, deren Umgang man meiden müßte.

Um die rohen Sitten zu mildern, schufen Gesetzgeber Gesetze, lehrten Weise die Moral, zeigten die Vorteile der Tugend und bewiesen so ihren Wert.

Die philosophischen Schulen des Orients und der Griechen stimmten über das Wesen der Tugend im großen und ganzen überein. Sie unterschieden sich eigentlich nur durch die Wahl der Motive, mit denen sie ihre Schüler zu tugendhaftem Wandel bestimmten. Die Stoiker betonten, ihren Grundsätzen gemäß, die der Tugend innewohnende Schönheit. Daraus schlossen sie, man müsse die Tugend um ihrer selbst willen lieben, und sahen das höchste menschliche Glück im unveränderlichen Besitz der Tugend. Die Platoniker sagten, man nähere sich den unsterblichen Göttern und werde ihnen ähnlich, wenn man nach ihrem Vorbild die Tugend übe. Die Epikuräer schrieben der Erfüllung der sittlichen Pflichten ein höchstes Lustgefühl zu. Wenn man ihre Grundsätze richtig versieht, so fanden sie im Genusse der reinsten Tugend unaussprechliche Glückseligkeit und Wonne. Moses kündigte seinen Juden, um sie zu guten und löblichen Handlungen anzuspornen, zeitlichen Lohn und zeitliche Strafen an. Die christliche Religion, die sich auf den Trümmern des Judentums erhob, schlug die Lasier durch ewige Strafen nieder und ermunterte die Tugend durch Verheißung ewiger Seligkeit. Mit diesen Triebfedern noch nicht zufrieden, wollte sie den größtmöglichen Grad von Vollkommenheit erreichen, indem sie behauptete: allein die Liebe zu Gott solle die Menschen zu guten Handlungen treiben, auch wenn sie in einem andren Leben weder Lohn noch Strafe zu erwarten hätten.

Unstreitig haben die philosophischen Schulen Männer von größtem Verdienst hervorgebracht, und ebenso sind aus dem Schoße des Christentums reine, wahrhaft heilige Seelen hervorgegangen. Trotzdem sind die Philosophen und Theologen erschlafft, und durch die Verderbtheit des menschlichen Herzens ist es soweit gekommen,<45> daß die verschiedenen Beweggründe zur Tugend nicht mehr die guten Wirkungen hervorrufen, die man erwarten sollte. Wie viele Heiden waren nur dem Namen nach Philosophen! Man braucht nur bei Lucian zu lesen, in wie schlechtem Rufe die Philosophen zu seiner Zeit standen. Wie viele Christen arteten aus und verderbten die alte Sittenreinheit! Habgier, Ehrgeiz und Fanatismus erfüllten die Herzen derer, die der Welt zu entsagen gelobt hatten, und untergruben das, was die schlichte Tugend begründet hatte. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen. Mit Ausnahme von einigen frommen, aber für die Gesellschaft unnützen Klausnern geben die heutigen Christen den Römern zur Zeit des Marius und Sulla nichts nach. Wohlgemerkt beschränke ich mich bei diesem Vergleich nur auf die Sitten.

Diese und ähnliche Betrachtungen haben mich veranlaßt, den Ursachen nachzuspüren, die eine so seltsame Verderbnis des Menschengeschlechts herbeigeführt haben. Ich weiß zwar nicht recht, ob ich meine Mutmaßungen über eine so schwerwiegende Frage äußern darf. Es scheint mir jedoch, als hätte man vielleicht eine falsche Wahl der Beweggründe getroffen, die die Menschen zur Tugend antreiben sollen. Diese Beweggründe haben nach meiner Ansicht den Mangel, daß sie der großen Masse nicht faßlich sind.

Die Stoiker bedachten nicht, daß die Bewunderung ein erzwungenes Gefühl ist, dessen Eindruck sich schnell verwischt, und dem die Eigenliebe sich nur widerwillig fügt. Daß die Tugend schön sei, gesieht man leicht zu, well dies Geständnis nichts kostet. Da wir es aber mehr aus Gefälligkeit als aus Überzeugung ablegen, so bestimmt es uns nicht zur eignen Besserung, zur Bezwingung unsrer schlechten Neigungen, zur Bezähmung unsrer Leidenschaften.

Die Platoniker hätten an die unermeßliche Kluft zwischen dem höchsten Wesen und dem gebrechlichen Geschöpf denken sollen. Wie tonnten sie diesem Geschöpf zumuten, seinen Schöpfer nachzuahmen, von dem es sich bei seinem beschränkten und begrenzten Verstande nur eine unbestimmte, schwankende Vorstellung bilden konnte? Unser Geist ist der Herrschaft der Sinne unterworfen. Unser Verstand befaßt sich nur mit Dingen, bei denen die Erfahrung uns erleuchtet. Ihm abstrakte Gegenstände vorlegen, heißt ihn in ein Labyrinth führen, aus dem er nie herausfinden wird. Stellt man ihm aber greifbare Gegenstände vor Augen, so kann man ihm Eindruck machen und ihn überzeugen. Nur wenige große Geister vermögen den gesunden Verstand zu bewahren, wenn sie in die Finsternisse der Metaphysik eindringen. Der Mensch ist im allgemeinen mehr sinnlich als vernünftig veranlagt.

Die Epikuräer wiederum mißbrauchten den Begriff der Lust und schwächten dadurch unbewußt das Gute ihrer Grundsätze. Durch dies zweideutige Wort gaben sie ihren Schülern Waffen zur Entstellung ihrer Lehre in die Hand.

Die christliche Religion — ich verehre das Göttliche, das man ihr zuschreibt, und rede hier bloß als Philosoph — bot dem Verstand nur abstrakte Begriffe. Um sie ihm begreiflich zu machen, hätte man also jeden Katechumenen zum Metaphysiker<46> verwandeln müssen und nur solche auswählen dürfen, deren Einbildungskraft stark genug war, um in dies Gebiet einzudringen. Aber nur der Geist Weniger ist dazu imstande. Wie die Erfahrung lehrt, hat das Gegenwärtige, Sinnfällige bei der großen Masse das Übergewicht über das Fernliegende, nur schwächer Wirkende. Darum wird sie die irdischen Güter, deren Genuß sie mit Händen greift, stets den imaginären Gütern vorziehen, deren Besitz sie sich nur undeutlich und in weiter Ferne vorstellt.

Aber was sollen wir erst von dem Motiv der Liebe zu Gott sagen, das die Menschen zur Tugend anspornen soll? Jener Liebe, die nach der Forderung der Quietisten von Höllenfurcht und Paradieseshoffnung frei sein soll? Ist eine derartige Liebe wohl möglich? Das Endliche kann das Unendliche nicht begreifen. Folglich können wir uns keine genaue Vorstellung von der Gottheit machen, sondern uns nur allgemein von ihrem Dasein überzeugen. Und das ist alles. Wie kann man da von einer schlichten Seele verlangen, ein Wesen zu lieben, das sie garnicht zu erkennen vermag? Begnügen wir uns also damit, es im stillen anzubeten, und beschränken wir unsre Herzensregungen auf das Gefühl tiefer Dankbarkeit gegen das höchste Wesen, in dem und durch das alles existiert.

Je mehr man diesen Gegenstand untersucht und erörtert, desto klarer wird es, daß man ein allgemeineres und einfacheres Prinzip anwenden muß, um die Menschen zur Tugend zu bewegen. Wer sich in das Studium des Menschenherzens vertieft hat, wird gewiß schon die Triebfeder entdeckt haben, die man in Tätigkeit setzen muß. Diese mächtige Triebfeder ist die Eigenliebe, die Wächterin unsrer Selbsterhaltung, die Schöpferin unsres Glücks, die unversiegliche Quelle unsrer Tugenden und Laster, der verborgene Grund alles menschlichen Tuns und Lassens. Sie findet sich bei Menschen von Geist in hervorragendem Grade und klärt noch den Stumpfsinnigsten über seinen Vorteil auf. Was ist nun schöner und bewundernswerter als ein Prinzip, das zum Lasier führen kann, just zur Quelle des Guten, des Glücks und der öffentlichen Wohlfahrt zu machen? Das aber würde geschehen, wenn ein geschickter Philosoph den Gegenstand in die Hand nähme. Er würde der Eigenliebe Grenzen ziehen, sie zum Guten lenken, eine Leidenschaft gegen die andre setzen und die Menschen durch den Nachweis, daß die Tugend ihr eigner VorteU ist, wirklich tugendhaft machen.

Larochefoucauld46-1 hat in seinen Untersuchungen über das menschliche Herz die Triebfeder der Eigenliebe sehr glücklich aufgedeckt, aber leider nur, um unsre Tugenden zu lästern und zu zeigen, daß sie nur Schein sind. Ich wünschte, man benutzte diese Triebfeder, um den Menschen zu beweisen, daß es ihr eigner Vorteil erheischt, gute Staatsbürger, gute Väter, gute Freunde zu sein, kurz, alle moralischen Tugenden zu besitzen. Und da es sich wirklich so verhält, würde es nicht schwer fallen, sie davon zu überzeugen.

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Weshalb sucht man die Menschen bei ihrem eignen Vorteil zu fassen, wenn man sie zu diesem oder jenem Entschluß bewegen will? Doch nur, weil der eigne Vorteil von allen Gründen der stärkste und überzeugendste ist. Brauchen wir also dasselbe Argument für die Moral. Machen wir den Menschen klar, daß sie sich durch lasterhaften Wandel unglücklich machen, daß aber mit guten Handlungen gute Folgen unzertrennlich verknüpft sind. Wenn die Kreter ihren Feinden fluchten, so wünschten sie ihnen lasterhafte Leidenschaften, das heißt, sie wünschten ihnen, sie möchten sich selber in Unglück und Schande stürzen47-1. Diese einleuchtenden Wahrheiten können bewiesen werden und sind für Weise, für Leute von Verstand und für den Pöbel gleich faßlich.

Man wird mir ohne Zweifel einwenden: meine Behauptung, daß mit guten Handlungen Glück verknüpft ist, sei schwer in Einklang zu bringen mit den Verfolgungen der Tugend und mit der Art von Wohlstand, in der sich viele verderbte Menschen befinden. Der Einwand ist leicht zu beheben, wenn wir unter dem Worte Glück nichts andres verstehen als vollkommene Seelenruhe. Sie gründet sich auf Zufriedenheit mit sich selbst und darauf, daß wir mit gutem Gewissen unsre Handlungen gutheißen können und uns keine Vorwürfe zu machen haben. Nun ist es ja klar, daß diese Empfindung in einem sonst unglücklichen Menschen herrschen kann, nicht aber in einem rohen und wilden Herzen; denn ein solches Herz muß, wenn es sich betrachtet, sich selbst verabscheuen, so glänzend auch sein äußeres Geschick scheinen mag.

Wir wollen nicht gegen die Erfahrung streiten, sondern zugeben, daß es eine Menge Beispiele unbestrafter Verbrechen gibt, daß viele Bösewichter ein Ansehen genießen, das vom blöden Volke bewundert wird. Aber fürchten diese Verbrecher nicht, daß die für sie so schreckliche Wahrheit eines Tages ans Licht kommt, daß die Zeit ihre Schande enthüllt? Konnte wohl der eitle Glanz, der die gekrönten Ungeheuer, einen Nero, Caligula, Domitian oder Ludwig XI. umgab, die geheime Stimme ihres Gewissens ersticken, die sie verurteilte? Konnte er verhindern, daß sie von Gewissensbissen verzehrt und von der unsichtbaren Rachegeißel zerfleischt wurden? Welche Seele kann in solcher Lage ruhig bleiben? Empfindet sie nicht schon im Leben alles Gräßliche, was die Höllenqual haben kann? Übrigens urteilt man sehr falsch, wenn man das Glück eines andren nur nach dem äußeren Schein bemißt. Es läßt sich nur nach der Denkart dessen schätzen, der es empfindet: die aber ist sehr verschieden. Der eine liebt den Ruhm, der andre das Vergnügen. Dieser hängt sein Herz an Kleinigkeiten, jener an Dinge, die man für wichtig hält. Ja, einige verabscheuen das, was andre sich wünschen oder als das höchste Gut ansehen.

Es gibt also keine feste Norm zur Beurtellung dessen, was von einem willkürlichen und oft phantastischen Geschmack abhängt. Daher kommt es oft, daß man laut das Glück und den Wohlstand von Leuten bewundert, die im Stillen bitter unter der Last ihres Kummers seufzen. Da wir nun also das Glück weder in äußeren Dingen noch<48> in den Glücksgütern finden können, die wir im wechselnden Spiele des Lebens bald gewinnen, bald verlieren, so müssen wir es in uns selbst suchen. Es gibt aber — ich wiederhole es — kein andres als Seelenruhe. Deshalb muß unser eigner Vorteil uns antreiben, nach einem so kostbaren Gute zu streben und die Leidenschaften zu zügeln, wenn sie es stören.

Wie ein Staat nicht glücklich sein kann, der von Bürgerkriegen zerrüttet wird, so kann auch der Mensch kein Glück genießen, wenn seine empörten Leidenschaften der Vernunft die Herrschaft streitig machen. Alle Leidenschaften ziehen eine Züchtigung nach sich, die mit ihnen verknüpft zu sein scheint. Davon sind selbst die unsren Sinnen am meisten schmeichelnden nicht ausgenommen. Die einen zerrütten die Gesundheit, die andern bescheren uns ewig wiederkehrende Sorge und Unruhe. Bald bringen sie den Verdruß über das Mißlingen gewaltiger Pläne, die wir entworfen haben, bald den Kummer, nicht die Achtung zu erringen, die wir zu verdienen glauben. Der eine schäumt vor Wut, sich an seinen Beleidigern nicht rächen zu können; ein zweiter empfindet Gewissensbisse über zu barbarische Vergeltung oder fürchtet, nach hundert Betrügereien entlarvt zu werden.

Den Geizigen zum Beispiel quält unaufhörlich der Durst nach Reichtümern. Alle Mittel sind ihm recht, wenn er diesen nur stillt! Aber die Angst, das mit so vieler Mühe Zusammengeraffte wieder zu verlieren, raubt ihm den Genuß seines Besitzes. Der Ehrsüchtige verliert die Gegenwart aus den Augen, um sich blindlings in die Zukunft zu stürzen. Er gebiert unaufhörlich neue Pläne und tritt alles, auch das Heiligste, herrisch mit Füßen, um sein Ziel zu erreichen. Die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, reizen und erbittern ihn. Ewig schwankend zwischen Furcht und Hoffen, ist er in der Tat unglücklich, und selbst der Besitz dessen, was er begehrt, ist mit Überdruß und Ekel gepaart. Dieser unerquickliche Zustand läßt ihn neue Glücksplane schmieden, aber das Glück, das er sucht, findet er nie. Soll man in einem so kurzen Leben so weitschauende Pläne entwerfen? Der Verschwender, der doppelt so viel verschleudert, als er zusammenrafft, ist wie das Faß der Danaiden, das niemals voll wurde. Stets sinnt er auf Mittel zur Befriedigung seiner zahlreichen Begierden. Die aber vermehren seine Bedürfnisse immerfort, und so arten seine Lasier schließlich in Verbrechen aus. Der Liebestolle wird zum Spielball der Weiber, die ihn betrügen. Der flatterhaft Liebende verführt sie nur dadurch, daß er wortbrüchig ist. Der Ausschweifende zerstört seine Gesundheit und verkürzt sein Leben.

Aber welche Vorwürfe hat sich nicht erst der Hartherzige, Ungerechte, Undankbare zu machen! Der Hartherzige hört auf, ein Mensch zu sein, well er die Vorrechte seiner Gattung nicht ehrt und in seinesgleichen seine Brüder verkennt. Er hat kein Herz im Busen, und da er selbst kein Mitleid empfindet, so verwirkt er auch das Mitleid der andren. Der Ungerechte bricht den Gesellschaftsvertrag. Er zerstört, soviel er vermag, die Gesetze, unter deren Schutze er lebt. Er würde sich gegen jede Bedrückung auflehnen, maßt sich selbst aber das ausschließliche Vorrecht an, Schwächere zu unterdrücken.<49> Sein Fehler ist schlechte Logik. Seine Grundsätze stehen miteinander in Widerspruch. Muß nicht auch das Gefühl für Recht und Billigkeit, das die Natur in aller Herzen gelegt hat, sich gegen seine Übergriffe auflehnen? Doch das abscheulichste, schwärzeste und ruchloseste von allen Lastern ist der Undank. Der Undankbare, gegen Wohltaten Unempfindliche begeht ein Majestätsverbrechen an der Gesellschaft. Denn er verdirbt, vergiftet und zerstört die Süßigkeit der Freundschaft. Beleidigungen empfindet er, aber Dienstleistungen nicht. Indem er Gutes mit Bösem vergilt, setzt er der Niedertracht die Krone auf. Aber eine so entartete, unter die Menschheit herabgesunkene Seele handelt gegen ihren eigenen Vorteil; denn jeder Mensch ist — so hoch er auch stehen mag — von Natur schwach und bedarf des Beistandes seiner Nächsten. Ein Undankbarer aber, den die Gesellschaft ausstößt, macht sich durch seine Herzlosigkeit unwürdig, je wieder Wohltaten zu empfangen. Unablässig sollte man den Menschen zurufen: „Seid sanft und menschlich, weil ihr schwach seid und des Beistandes bedürft! Seid gerecht gegen andre, damit die Gesetze auch euch gegen fremde Gewalttat schützen! Tut andren das nicht an, was sie euch nicht antun sollen.“

Ich will in dieser flüchtigen Skizze nicht all die Gründe auseinandersetzen, die die Eigenliebe den Menschen an die Hand gibt, um ihre schlechten Neigungen zu besiegen und ein tugendhaftes Leben zu führen. Bei den engen Grenzen meiner Abhandlung kann ich den Gegenstand nicht erschöpfen. Ich begnüge mich mit der Behauptung, daß alle, die neue Beweggründe zur Verbesserung der Sitten ausfindig machen, der Gesellschaft, ja selbst der Religion einen wichtigen Dienst leisten.

Nichts ist wahrer und handgreiflicher, als daß die Gesellschaft nicht bestehen kann, wenn ihre Mitglieder keine Tugend, keine guten Sitten besitzen. Sittenverderbnis, herausfordernde Frechheit des Lasters, Verachtung der Tugend und derer, die sie ehren, Mangel an Redlichkeit in Handel und Wandel, Meineid, Treulosigkeit, Eigennutz an Stelle des Gemeinsinns — das sind die Vorboten des Verfalls der Staaten und des Untergangs der Reiche. Denn sobald die Begriffe von Gut und Böse verwirrt werden, gibt es weder Lob noch Tadel, weder Lohn noch Strafe mehr.

Ein so wichtiger Gegenstand wie die Moral geht die Religion ebensoviel an wie den Staat. Die christliche, jüdische, mohammedanische und chinesische Moral haben beinahe die gleiche Sittenlehre. Die christliche hat trotz ihrer langen Geltung noch zwei Arten von Feinden zu bekämpfen. Die einen sind die Philosophen, die nur den gesunden Menschenverstand und die streng exakte logische Beweisführung gelten lassen und alle Ideen und Systeme verwerfen, die nicht mit den Regeln der Logik übereinstimmen; doch davon reden wir hier nicht. Die andren sind die Freigeister49-1, deren Sitten, durch lange Gewöhnung an das Laster verderbt, sich gegen das harte Joch<50> aufbäumen, das die Religion ihren Leidenschaften auflegen will. Sie streifen ihre Fesseln ab, sprechen sich stillschweigend von einem Gesetze los, das ihnen Zwang antut, und suchen in völligem Unglauben eine Freistätte. Ich behaupte nun: alle Beweggründe, die man zur Besserung solcher Charaktere anwenden kann, gereichen der christlichen Religion offenbar zum größten Vorteil. Ja, ich glaube, der eigne Vorteil des Menschen ist das mächtigste Motiv, mit dem man sie von ihren Verirrungen abbringen kann. Ist der Mensch einmal davon überzeugt, daß es in seinem eignen Interesse liegt, tugendhaft zu sein, so wird er sich auch lobenswerter Handlungen befleißigen, und da er dann der Moral des Evangeliums tatsächlich gemäß lebt, wird man ihn auch leicht dahin bringen, aus Liebe zu Gott das zu tun, was er schon aus Liebe zu sich selbst getan hat. Das nennen die Theologen: heidnische Tugenden in christliche, geheiligte verwandeln.

Doch hier stellt sich ein neuer Einwand dar. Man wird mir gewiß entgegenhalten: „Du widersprichst dir selbst. Du denkst nicht daran, daß man die Tugend als einen Trieb der Seele zu größter Selbstlosigkeit definiert. Wie kannst du also wähnen, man könne zu dieser völligen Selbstaufgabe durch den eigenen Vorteil gelangen, das heißt, durch den ihr strikt entgegengesetzten Seelenzustand?“

Der Einwurf ist stark, aber doch leicht zu widerlegen, wenn man die verschiedenen Triebfedern der Selbstliebe betrachtet. Bestünde sie nur aus dem Verlangen nach Gütern und Ehren, so hätte ich nichts zu erwidern. Aber ihr Trachten beschränkt sich nicht auf so wenig. Sie umfaßt zunächst Liebe zum Leben und zur Selbsterhaltung, dann Begierde nach Glück, Furcht vor Tadel und Schmach, Verlangen nach Ansehen und Ruhm und schließlich die Leidenschaft für alles, was man für nützlich hält. Dazu tritt noch Abscheu vor allem, was man der Selbsierhaltung schädlich glaubt. Man braucht also nur die Urteile der Menschen zu berichtigen. Wonach muß ich trachten, was muß ich meiden, um die sonst rohe und schädliche Eigenliebe nützlich und lobenswert zu machen?

Die Beispiele der größten Uneigennützigkeit, die wir haben, rühren aus der Eigenliebe her. Die hochherzige Aufopferung der beiden Decius50-1, die ihr Leben freiwillig Hingaben, um dem Vaterland den Sieg zu erringen — woraus entsprang sie, wenn nicht daraus, daß sie ihr Leben weniger hoch einschätzten als den Ruhm? Weshalb widerstand Scipio im Jünglingsalter, wo die Leidenschaften so gefährlich sind, der Versuchung, in die ihn die Schönheit seiner Gefangenen brachte? Warum gab er sie als Jungfrau ihrem Verlobten zurück und überhäufte beide mit Geschenken50-2? Können wir zweifeln, daß der Held gemeint hat, sein edles, großmütiges Benehmen werde<51> ihn mehr ehren als die rohe Sättigung seiner Begierde? Er zog also den guten Ruf der Wollust vor.

Wie viele Züge von Tugend, wie viele unsterbliche Ruhmestaten hat man nicht tatsächlich dem Instinkt der Selbstliebe zu verdanken? Aus einem geheimen, fast unmerklichen Gefühl beziehen die Menschen alles auf sich selbst. In sich sehen sie einen Mittelpunkt, in dem alle Strahlen ihres Umkreises zusammenlaufen. Welche gute Tat sie auch tun mögen, sie selbst sind deren verborgener Gegenstand. Das stärkere Gefühl überwiegt bei ihnen das schwächere, und oft bestimmt ihr Handeln ein falscher Schluß, dessen Mängel sie nicht einsehen. Man darf ihnen also nur das wahre Gute zeigen, ihnen dessen Wert klarmachen und ihre Leidenschaften in den Dienst der Tugend stellen, indem man sie lenkt und eine gegen die andre setzt.

Gilt es ein Verbrechen zu verhüten, das jemand begehen will, so findet man ein Abschreckungsmittel in den Gesetzen, die es bestrafen. Man muß dann den Selbsterhaltungstrieb jedes Menschen wachrufen und ihn den schlimmen Absichten entgegenstellen, die ihn den strengsten Strafen, ja dem Tode aussetzen. Der Selbsterhaltungstrieb kann auch Wüstlinge bessern, die durch ihre Ausschweifungen ihre Gesundheit zerrütten und ihr Leben verkürzen. Ein gleiches gilt von denen, die sich vom Jähzorn hinreißen lassen; denn es gibt Beispiele dafür, daß diese Leidenschaft bei großer Heftigkeit epileptische Anfälle zur Folge hat.

Die Furcht vor Tadel bringt fast die gleichen Wirkungen hervor wie der Selbsterhaltungstrieb. Wie viele Frauen verdanken ihre Keuschheit, deretwegen man sie lobt, dem Verlangen, ihren Ruf vor Verleumdung zu schützen! Wie viele Männer sind nur darum uneigennützig, weil sie fürchten, in der Welt als Betrüger und Elende dazustehen, wenn sie anders handelten.

Kurz, die verschiedenen Triebfedern der Eigenliebe geschickt in Bewegung zu setzen, es so hinzustellen, daß alle Vorteile von guten Handlungen dem Handelnden selbst zugute kommen — das ist das Mittel, um diesen Quell des Guten und Bösen zur treibenden Kraft des Verdienstes und der Tugend zu machen.

Ich muß zu unsrer Schande gestehen, daß man in unsrem Jahrhundert eine merkwürdige Abkühlung gegen alle Bestrebungen zur Besserung des menschlichen Herzens und der Sitten antrifft. Man sagt öffentlich und läßt es sogar drucken: die Moral sei ebenso langweilig wie unnütz. Man behauptet: die Menschennatur sei ein Gemisch von Gut und Böse, das sich nicht ändern lasse; die stärksten Gründe wichen der Gewalt der Leidenschaften, und man müsse die Welt gehen lassen, wie sie geht.

Wenn man nun mit dem Erdboden ebenso verführe, wenn man ihn unbebaut ließe, so würde er sicherlich nur Disteln und Dornen tragen, nie aber die reichen und nützlichen Ernten, die uns mit Nahrungsmitteln versorgen. Ich gebe zu: soviel man sich auch um Besserung der Sitten bemüht, es wird stets Lasier und Verbrechen auf der Welt geben. Aber es werden ihrer doch weniger sein, und damit ist schon viel gewonnen. Es wird dann auch mehr gebesserte und voll entwickelte Seelen geben,<52> die sich durch hervorragende Eigenschaften auszeichnen. Sind nicht aus der Schule der Philosophen erhabene Seelen, fast göttliche Menschen hervorgegangen, die die Tugend zur höchsten, der Menschheit erreichbaren Vollendung gebracht haben? Die Namen eines Sokrates, Aristides, Cato, Brutus, Antoninus Pius, Mark Aurel werden in den Annalen des Menschengeschlechts so lange fortleben, wie es tugendhafte Seelen auf der Welt gibt. Auch die Religion hat einige treffliche Männer hervorgebracht, die sich durch Menschlichkeit und Wohltätigkeit auszeichneten. Zu ihnen rechne ich indessen nicht die mürrischen, fanatischen Mönche, die in ftommen Kerkern die Tugenden begruben, durch die sie ihren Nächsten hätten nützlich werden können, und die lieber der Gesellschaft zur Last fallen, als ihr dienen wollten.

Heutzutage müßte man damit anfangen, das Vorbild der Alten nachzuahmen, alle Aufmunterungsmittel zur Besserung des Menschengeschlechts anzuwenden, in den Schulen die Sittenlehre jedem andren Unterricht vorzuziehen und sie leicht faßlich vorzutragen. Vielleicht käme man seinem Zweck bedeutend näher, wenn man Katechismen anfertigte, aus denen die Kinder von klein auf lernten, daß die Tugend zu ihrem Glück unerläßlich ist. Ich wünschte, die Philosophen beschäftigten sich weniger mit ebenso vorwitzigen wie fruchtlosen Untersuchungen und übten ihre Talente mehr an der Moral. Vor allem aber sollte ihr Wandel ihren Schülern in allen Stücken zum Muster dienen. Dann führten sie mit Recht den Namen: Lehrer des Menschengeschlechts.

Die Theologen sollten sich weniger um die Erklärung unbegreiflicher Dogmen bemühen. Sie sollten die Wut verlernen, uns Dinge beweisen zu wollen, die uns als Mysterien und als höher denn alle Vernunft verkündigt sind. Vielmehr sollten sie sich darauf legen, praktische Moral zu predigen und statt blumenreicher Reden nützliche, schlichte, klare und dem Verständnis ihrer Zuhörer angemessene Andachten abzuhalten. Bei spitzfindigen Beweisführungen schlafen die Menschen ein. Ist aber von ihrem eignen Vorteil die Rede, so wachen sie auf. Derart ließe sich durch geschickte und weise Reden die Eigenliebe zur Führerin der Tugend machen. Man könnte mit Erfolg neue Beispiele gebrauchen, die dem Geiste der zu Belehrenden an, gepaßt sind. Will man einen trägen Bauern zur besseren Bestellung seines Ackers aufmuntern, so erreicht man das sicherlich am leichtesten mit dem Hinweis auf seinen durch Emsigkeit reich gewordenen Nachbarn. Man muß ihm sagen, es hinge nur von ihm ab, den gleichen Wohlstand zu erlangen. Stets müssen die gewählten Vorbilder der Fassungskraft und dem Stande derer entsprechen, die sie nachahmen sollen. Aus zu ungleichen Lebenslagen darf man sie niemals nehmen. Der Ruhm des Miltiades störte den Schlaf des Themisiokles.

Wenn nun große Beispiele auf die Alten so starken Eindruck gemacht haben, warum sollen sie in unsren Tagen wirkungslos bleiben? Die Liebe zum Ruhm ist edlen Seelen angeboren, man braucht sie nur zu beleben und anzufachen. Dann werden Menschen, die bis dahin nur hinvegetierten, von diesem glücklichen Triebe<53> entstammt, wie Halbgötter dastehen. Reicht auch die vorgeschlagene Methode zur Ausrottung aller Lasier auf Erden nicht aus, so kann sie doch, dünkt mich, den guten Sitten Anhänger werben und Tugenden erwecken, die ohne ihre Hilfe in dumpfem Schlafe geblieben wären. Damit leistet man der Gesellschaft stets einen Dienst, und das ist auch der Zweck dieser Abhandlung.


44-1 Die obige Abhandlung wurde am II. Januar 1770 in der Akademie verlesen.

46-1 „Pensées, maximes et réflexions“ , Paris 1665.

47-1 Valerius Maximus, Buch VII, Kapitel 2.

49-1 Das französische Wort libertin ist doppelsinnig. Es umfaßt die Ungebundenheit des Denkens und der Sitten.

50-1 Publius Decius Mus opferte sich als Konsul freiwillig für das Vaterland, um den Sieg in der Schlacht am Vesuv (340 v. Chr.) zu erringen. Sein gleichnamiger Sohn tat dasselbe in der Schlacht bei Sentinum (295 v. Chr.). Nur dessen Opfertod ist historisch beglaubigt.

50-2 Wie Valerius Maximus (Buch IV, Kapitel 3) berichtet, trug sich der Vorgang im Jahre 210 nach der Eroberung von Neu-Karthago in Spanien durch den älteren Scipio Africanus zu.