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Über den Nutzen der Künste und Wissenschaften im Staate (1772)54-1

Wenig aufgeklärte und wahrheitsliebende Leute haben den Künsten und Wissenschaften den Krieg zu erklären gewagt. War ihnen die Verlästerung dessen gestattet, was der Menschheit zur höchsten Ehre gereicht, so muß die Verteidigung erst recht gestattet sein. Sie ist die Pflicht aller, die die menschliche Gesellschaft lieben und ein dankbares Herz für das besitzen, was sie den Wissenschaften schulden. Unglücklicherweise machen widersinnige Behauptungen den Menschen oft größeren Eindruck als Wahrheiten. Es gilt also, ihnen die Augen zu öffnen und die Urheber solchen Aberwitzes zu beschämen — nicht durch Schmähungen, sondern durch triftige Gründe. Ich scheue mich, vor der Akademie zu sagen, daß jemand so frech gewesen ist, in Frage zu stellen, ob die Wissenschaften der menschlichen Gesellschaft nützlich oder schädlich sind. Darüber dürfte doch niemand im Zweifel sein! Wenn wir einen Vorzug vor den Tieren besitzen, so liegt er sicherlich nicht in unsern körperlichen Eigenschaften, sondern in dem größeren Verstande, den die Natur uns verliehen hat. Auch die Menschen untereinander scheidet der Geist und das Wissen. Woher käme wohl sonst der unendliche Abstand zwischen einem kultivierten und einem barbarischen Volke, wenn nicht daher, daß das eine aufgeklärt ist, das andre aber in Verdummung und Stumpfsinn dahinlebt?

Die Völker, die sich solcher Überlegenheit erfreuten, waren dankbar gegen die, die ihnen diesen Vorzug verschafften. Daher stammt der gerechte Ruhm jener Leuchten der Welt, jener Weisen, deren gelehrte Arbeiten ihre Landsleute und ihr Zeitalter aufgeklärt haben.

Der Mensch stellt an sich wenig vor. Er wird mit mehr oder minder entwicklungsfähigen Anlagen geboren, die der Ausbildung bedürfen. Seine Kenntnisse müssen vermehrt werden, damit seine Begriffe sich erweitem können. Sein Gedächtnis ist zu bereichern, damit der Vorrat die Einbildungskraft mit Stoff versieht, den sie verar<55>betten kann, und sein Urteil ist zu schärfen, damit es seine eignen Leistungen abschätzen lernt. Der gewaltigste Geist gleicht ohne Kenntnisse einem rohen Diamanten, der erst unter den Händen eines geschickten Steinschleifers seinen Wert erhält. Wieviel Geist geht derart für die menschliche Gesellschaft verloren, und wie viele große Männer jedes Schlages werden im Keime erstickt, sei es durch Unwissenheit, sei es durch die elenden Verhältnisse, in die sie gesetzt sind!

Das wahre Wohl des Staates, sein Vorteil und Glanz erfordern also, daß die Volksgenossen so unterrichtet und aufgeklärt wie möglich sind. Dadurch erhält der Staat in jedem Berufe zahlreiche geschickte Untertanen, die zur tüchtigen Verwaltung der verschiedenen Ämter, die man ihnen anvertrauen muß, wohl imstande sind.

Der Zufall der Geburt hat viele in eine Lebenslage gebracht, in der sie nicht ermessen können, welch unendlichen Schaden mehr oder weniger alle europäischen Staaten durch die Mißgriffe von Unwissenden erleiden, und so werden ihnen diese Übelstände vielleicht nicht so fühlbar, als wenn sie deren Augenzeugen wären. Es ließe sich eine Menge solcher Beispiele anführen, wenn die Art und der Umfang dieser Rede uns nicht in die richtigen Schranken verwiese. Nur die Faulheit, die sich zu unterrichten verschmäht, nur die anspruchsvolle Unwissenheit, die alles mit Beschlag belegt und zu allem unfähig ist, konnte irgend einen Narren55-1 zu der durch elende Aberwitzigkeiten gestützten Behauptung verführen, die Wissenschaften wären verderblich, verfeinerten nur die Lasier und verderbten die Sitten. Solche Verkehrtheiten springen in die Augen! In welcher Form man sie auch vorbringe, fest sieht, daß die Bildung den Geist veredelt, anstatt ihn zu erniedrigen. Was verdirbt die Sitten? Böse Beispiele sind es. Wie Seuchen in großen Städten schlimmere Verheerungen anrichten als in Dörfern, so macht auch die Ansteckung des Lasters in volkreichen Städten größere Fortschritte als auf dem Lande, wo die tägliche Arbeit und ein abgeschlosseneres Leben die Sitten einfach und rein erhält.

Es hat falsche Staatsmänner gegeben, die in kleinlichen Begriffen befangen waren und ohne gründliches Eingehen auf den Gegenstand glaubten, es sei leichter, ein unwissendes und verdummtes Volk zu regieren als eine aufgeklärte Nation. Das ist wirklich eine überwältigende Behauptung! Die Erfahrung beweist vielmehr, daß ein Volk desto eigensinniger und starrköpfiger ist, je dümmer es ist, und daß es weit schwerer hält, seinen Starrsinn zu brechen, als ein leidlich gebildetes Volk von einer gerechten Sache zu überzeugen. Das wäre ein schönes Land, wo die Talente ewig unterdrückt blieben und nur ein Einziger weniger beschränkt wäre als die andren! Solch ein von Unwissenden bevölkerter Staat gliche dem verlorenen Paradiese der Bibel, das nur von Tieren bewohnt war.

Dem erlauchten Hörerkreis der Akademie braucht zwar nicht erst bewiesen zu werden, daß Künste und Wissenschaften ebenso nützlich, wie für die Völker, die sie besitzen,<56> ruhmvoll sind. Aber es ist doch vielleicht nicht unangebracht, eine Gattung weniger aufgeklärter Leute davon zu überzeugen, um sie gegen die Einflüsse zu schützen, die schändliche Sophisten auf ihren Geist ausüben könnten. Mögen diese doch einen kanadischen Wilden mit dem Bürger eines zivilisierten europäischen Staates vergleichen! Der ganze Vorteil wird jedenfalls bei dem letzteren liegen! Wie kann man die rohe Natur einer vervollkommneten, den Mangel an Existenzmitteln dem auskömmlichen Leben, Grobheit der Höflichkeit, Sicherheit des Eigentums, die man unter dem Schutze der Gesetze genießt, dem Recht des Stärkeren und der Räuberei vorziehen, die Habe und Wohlfahrt der Familien zerstört?

Die Gesellschaft, die von einer Volksgemeinschaft gebildet wird, kann weder der Künste noch der Wissenschaften entbehren. Durch die Wasserbaukunst werden die Gegenden längs der Flüsse vor deren Austreten und vor Überschwemmungen bewahrt. Ohne sie würden fruchtbare Gebiete sich in ungesunde Sümpfe verwandeln und viele Familien ihren Unterhalt einbüßen. Die höher gelegenen Gegenden bedürfen des Feldmessers, der die Äcker abmißt und einteilt. Die durch Erfahrung bestätigten physikalischen Kenntnisse tragen zur Vervollkommnung des Ackerbaues und besonders der Gärtnerei bei. Die Botanik, die sich dem Studium der Heilkräuter widmet, die Chemie, die die Säfte aus ihnen zu ziehen weiß, belebt wenigstens unsre Hoffnung während der Krankheit, selbst wenn sie uns nicht zu heilen vermögen. Die Anatomie führt und leitet die Hand des Wundarztes bei den schmerzhaften, aber notwendigen Operationen, die unser Dasein durch Entfernung des erkrankten Körperteils retten. Die Mechanik dient zu vielerlei. Soll eine Last gehoben oder fortgeschafft werden, sie setzt sie in Bewegung. Soll das Erdinnere durchwühlt werden, um Metalle zu fördern, sie trocknet die Stollen durch klug erfundene Maschinen aus und befreit den Bergmann von dem überfiüssigen Wasser, das ihn töten oder seine Arbeit verhindern würde. Gilt es, Mühlen zum Zermahlen unsres bekanntesten und notwendigsten Nahrungsmittels zu errichten, so werden sie durch die Mechanik vervollkommnet. Ebenso erleichtert die Mechanik die Arbeit durch Verbesserung der verschiedenen Werkzeuge, die der Arbeiter benutzt. Alle Maschinen gehören in ihr Fach, und wie viele Maschinen aller Art sind erforderlich! Die Schiffsbaukunsi gehört vielleicht zu den größten Errungenschaften des Denkvermögens. Aber wie vieler Kenntnisse bedarf nicht auch der Steuermann, um das Schiff zu lenken und den Fluten und Winden zu trotzen! Er muß in der Astronomie Bescheid wissen, gute Seekarten und genaue Kenntnis der Geographie besitzen. Er muß Fertigkeit im Rechnen haben, um die zurückgelegte Entfernung und den Ort, wo er sich befindet, zu bestimmen, wobei er künftig eine Hilfe an den in England kürzlich vervollkommneten Instrumenten finden wird.

Künste und Wissenschaften reichen sich die Hand. Ihnen danken wir alles. Sie sind die Wohltäter des Menschengeschlechts. Der Bürger großer Städte genießt sie, ohne in seiner stolzen Bequemlichkeit zu wissen, wie vieler durchwachter Nächte und Anstren<57>gungen es bedarf, um seine Bedürfnisse zu befriedigen und seinen oft wunderlichen Neigungen zu genügen.

Wie viele Kenntnisse erheischt nicht der Krieg, der zuweilen notwendig ist, aber oft auch zu leichtsinnig unternommen wird! Schon die Erfindung des Schießpulvers hat die Kriegführung so völlig verändert, daß die größten Helden des Altertums, wenn sie heute auf die Welt zurückkehrten, sich zur Behauptung ihres rechtmäßig erworbenen Ruhmes mit unsren Entdeckungen vertraut machen müßten. In der heutigen Zeit muß ein Kriegsmann Mathematik, Befestigungskunst, Hydraulik und Mechanik studieren, um Festungswerke anlegen und künstliche Überschwemmungen herbeiführen zu können, um die Kraft des Pulvers zu kennen, den Wurf der Bomben zu berechnen, die Wirkung der Minen zu bestimmen, den Transport der Kriegsmaschinen erleichtern zu können. Er muß mit der Lagerkunst, der Taktik, der Mechanik des Exerzierens vertraut sein, muß genaue Kenntnis des Geländes und der Geographie besitzen. Seine Feldzugspläne müssen, obwohl er auf Mutmaßungen beschrankt ist, einem mathematischen Beweise gleichen. Er muß die Geschichte aller früheren Kriege im Kopfe haben, damit seine Phantasie aus ihr wie aus einer fruchtbaren Quelle schöpfen kann.

Aber nicht allein die Heerführer müssen ihre Zuflucht zu den Archiven der Vergangenheit nehmen. Auch der Beamte, der Jurist könnten ihre Pflicht nicht erfüllen, wenn sie den Teil der Geschichte, der die Gesetzgebung betrifft, nicht gründlich beherrschen. Es genügt nicht, daß sie den Geist der Gesetze ihres Vaterlandes studiert haben, sie müssen auch den der andren Völker kennen und wissen, bei welchen Anlässen die Gesetze eingeführt oder abgeschafft wurden.

Selbst die Träger der Staatsgewalt und die, welche unter ihnen die Regierung leiten, können das Geschichtsstudium nicht entbehren. Die Geschichte ist ihr Brevier, ein Gemälde, das ihnen die feinsten Schattierungen der Charaktere und Handlungen der Machthaber, ihre Tugenden und Laster, ihr Glück und Unglück und ihre Hilfsmittel zeigt. In der Geschichte ihres Vaterlandes, auf die sie ihr Hauptaugenmerk richten müssen, finden sie den Ursprung seiner guten und schlechten Einrichtungen und eine Kette von zusammenhängenden Ereignissen, die sie bis an die Gegenwart führt. In ihr finden sie die Gründe, die die Völker vereinigt und ihre Bande wieder zerrissen haben, Beispiele, die nachzuahmen oder zu vermeiden sind. Aber welch ein Gegenstand des Nachdenkens ist für einen Herrscher erst die Musterung all der Fürsten, die ihm die Geschichte vorführt! Unter ihnen befinden sich notwendig solche, deren Charaktere oder Handlungen mit den seinen verwandt sind, und im Urteil der Nachwelt sieht er wie in einem Spiegel das Urteil, das seiner selbst harrt, sobald mit seinem Hinscheiden die Furcht, die er einflößte, völlig verschwunden ist.

Sind die Historiker die Lehrer der Staatsmänner, so sind die Logiker die Zerschmetterer der Irrtümer und des Aberglaubens. Sie haben die Hirngespinste geistlicher und weltlicher Marktschreier bekämpft und zerstört. Ohne sie würden wir vielleicht noch<58> heute, gleich unsren Vorfahren, erdichteten Göttern Menschenopfer darbringen und das Werk unsrer eignen Hände anbeten. Wir würden gezwungen sein, zu glauben, und wagten nicht nachzudenken, und so dürften wir vielleicht noch immer nicht unsre Vernunft dazu brauchen, die für unser Schicksal wichtigsten Fragen zu prüfen. Wir würden noch immer wie unsre Väter den Freipaß für das Paradies und Ablaß für Verbrechen mit Gold aufwiegen. Die Wüstlinge wurden Hab und Gut drangeben, um nicht ins Fegefeuer zu kommen. Wir würden noch Scheiterhaufen für Andersdenkende errichten. Leere Gebräuche würden den Zwang zur Tugend ersetzen, und tonsurierte Betrüger würden uns im Namen der Gottheit zu den abscheulichsten Schandtaten antreiben. Wenn der Fanatismus zum Teil noch besieht, so kommt das daher, weil er in den Zeiten der Unwissenheit zu tiefe Wurzeln geschlagen hat, und weil der Vorteil gewisser Gesellschaften in grauen, schwarzen, braunen und weißen Kutten es erheischt, das Übel stets wieder zu beleben und seine Ausbrüche zu vermehren, nur damit sie das Ansehen nicht einbüßen, das sie noch im Geiste des Volkes besitzen.

Wir geben zu, daß die Logik das Begriffsvermögen des Pöbels übersteigt. Diese zahlreiche Menschengattung läßt sich immer zu allerletzt die Augen öffnen. Aber wenn sie auch in allen Ländern den Schatz des Aberglaubens behütet, so darf man doch sagen, daß man ihr den Wahn von Zauberern, Besessenen, Goldmachern und andre, ebenso kindische Albernheiten ausgetrieben hat. Das verdanken wir der tieferen Naturerkenntnis.

Die Physik hat sich mit der Analyse und mit der Erfahrung verbündet. Man hat kräftig in die Dunkelheiten hineingeleuchtet, die den Gelehrten des Altertums so viele Wahrheiten verbargen. Wenn wir auch nicht zur Kenntnis der geheimen Urgründe gelangen können, die der große Weltenbaumeister sich selbst vorbehalten hat, so fanden sich doch mächtige Geister, die die ewigen Gesetze der Schwerkraft und der Bewegung entdeckt haben. Der Kanzler Bacon, der Vorläufer der neuen Philosophie, oder besser gesagt der Mann, der ihre Fortschritte ahnte und vorhersagte, hat Newton auf die Pfade seiner wunderbaren Entdeckungen geführt. Newton löste Descartes ab, der die alten Irrtümer beseitigte, um sie durch eigne zu ersetzen. Seitdem hat man die Luft gewogen58-1, den Himmel ausgemessen, den Lauf der Gestirne mit unendlicher Genauigkeit berechnet58-2, die Finsternisse vorhergesagt, eine unbekannte Eigenschaft der Materie, die Elektrizität, entdeckt, deren Wirkungen die Vorstellungskraft in Erstaunen setzen. Ohne Zweifel wird man binnen kurzem auch die Wiederkehr der Kometen ebenso vorausbestimmen können wie die Finsternisse. Doch eins danken wir schon dem gelehrten Bayle: er hat den Schrecken verscheucht, den das Erscheinen des Kometen bei den Unwissenden hervorrief58-3. Gestehen wir es nur: so sehr unsre menschliche Schwäche uns auch demütigt, so sehr stärken die Leistungen jener großen Männer unsren Mut und lassen uns die Würde unsres Seins empfinden.

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Schelme und Betrüger sind also die einzigen, die sich den Fortschritten der Wissenschaften widersetzen und es sich zur Aufgabe machen können, sie zu verlästern; denn sie sind die einzigen, denen die Wissenschaft schaden kann.

In dem philosophischen Zeitalter, in dem wir leben, hat man nicht nur die hohen Wissenschaften verleumden wollen; es fanden sich auch Leute von so mürrischem Wesen, oder vielmehr so alles Gefühls und Geschmacks bar, daß sie den schönen Künsten den Krieg erklärt haben. Nach ihrer Meinung ist ein Redner ein Mensch, der mehr darauf ausgeht, schön zu sprechen als richtig zu denken. Ein Dichter ist ihnen ein Narr, der sich mit Silbenzählen abgibt, ein Geschichtsschreiber ein Zusammenstoppler von Lügen. Leute, die ihre Schriften lesen, sind Zeitvergeuder und ihre Bewunderer oberflächliche Geister. Sie möchten all die alten Dichtungen, die geistreichen, sinnbildlichen Fabeln, die soviel Wahrheit enthalten, in den Bann tun. Sie wollen nicht begreifen, daß, wenn Amphion die Mauern Thebens mit den Klängen seiner Leier erbaute, das bedeuten soll, daß die Künste die Sitten wilder Völker milderten und die Entstehung gesellschaftlicher Zustände herbeiführten.

Es gehört eine sehr fühllose Seele dazu, dem Menschengeschlecht den Trost und Beistand rauben zu wollen, den ihm die schönen Wissenschaften in den Bitternissen des Lebens gewähren. Man befreie uns von unsrem elenden Schicksal oder gestatte uns, es zu versüßen. Nicht ich will den gallsüchtigen Feinden der schönen Wissenschaften antworten, sondern ich berufe mich auf die Worte des philosophischen Konsuls, des Vaters des Vaterlandes und der Beredsamkeit. „Die Wissenschaften“, sagt Cicero59-1, „bilden die Jugend und erheitern das Alter. Sie verleihen Glanz im Glück und bieten Zuflucht und Trost im Unglück. Sie erfreuen daheim und belästigen uns nicht außer dem Hause. Sie durchwachen mit uns die Nächte, begleiten uns auf Reisen und wohnen mit uns auf dem Lande. Ja, wären wir auch selbst unfähig, sie zu erlangen oder ihren Zauber recht zu genießen, wir müßten sie doch stets bewundern, wenn wir sie nur bei andren gewahren.“

Möchten die, die so gern eifern, Achtung vor dem lernen, was Achtung verdient, und statt ebenso ehrenhafte wie nützliche Beschäftigungen zu bekritteln, ihre Galle lieber über den Müßiggang ergießen, der aller Lasier Anfang ist. Wie hätte wohl Griechenland in den denkwürdigen Zeiten, da es einen Sokrates, Plato, Aristides, Alexander, Perikles, Thukydides, Euripides und Xenophon hervorbrachte, den hellen Glanz ausgestrahlt, der noch jetzt unsre Augen blendet, wenn Wissenschaften und Künste für die menschliche Gesellschaft nicht notwendig und unentbehrlich wären und ihre Pfiege weder Nutzen noch Annehmlichkeit noch Ruhm brächte? Gewöhnliche Handlungen entschwinden dem Gedächtnis, aber die Taten, Entdeckungen und Fortschritte der Großen hinterlassen bleibenden Eindruck.

Nicht anders war es bei den Römern. Ihr großes Zeitalter war dasjenige, wo der stoische Cato mit der Freiheit unterging, wo Cicero den Verres niederschmetterte und<60> sein Buch von den Pflichten, seine Tuskulanen, sein unsterbliches Werk über die Natur der Götter schrieb, wo Varro seine „Origines“ und sein Gedicht über den Bürgerkrieg verfaßte60-1 wo Cäsar durch seine Milde das Gehässige seiner Gewaltherrschaft aus, löschte, wo Virgil seine Äneis vortrug und Horaz seine Oden dichtete, wo Livius die Namen aller großen Männer, die die Republik ausgezeichnet hatten, der Nachwelt überlieferte. Frage sich ein jeder, zu welcher Zeit er in Athen oder Rom hätte leben mögen, und er wird ohne Zweifel jene glänzenden Epochen wählen.

Auf jene glorreichen Zeiten folgte eine abscheuliche Barbarei. Wilde Völker überschwemmten fast ganz Europa. Sie führten Lasier und Unwissenheit mit sich, die dem übertriebensten Aberglauben die Wege ebneten. Erst nach elf Jahrhunderten der Verdummung konnte die Menschheit sich von jenem Roste reinigen, und in dieser Zeit der Wiedergeburt der Wissenschaften machte man viel mehr Aufhebens von den guten Schriftstellern, die Italien zuerst zierten, als von Leo X., der sie beschützte. Franz I. war neidisch auf ihren Ruhm und wollte ihn teilen. Er machte vergebliche Versuche, die fremden Gewächse in ein Erdreich zu verpflanzen, das für sie noch nicht vorbereitet war. Erst gegen Ende der Regierung Ludwigs XIII. und unter Ludwig XIV. begann für Frankreich das schöne Zeitalter, wo alle Künste und Wissenschaften in gleichem Schritt der höchsten Stufe der Vollendung entgegensirebten, die zu erreichen der Menschheit verstattet ist. Seitdem verbreiteten sich die verschiedenen Künste überall. Dänemark hatte bereits einen Tycho de Brahe erzeugt, Preußen einen Kopernikus, und Deutschland rühmte sich, einen Leibniz hervorgebracht zu haben. Auch Schweden hätte die Liste seiner großen Männer vermehrt, wären nicht die fortwährenden Kriege, in die die Nation damals verstrickt war, dem Fortschritt der Künste schädlich gewesen.

Alle aufgeklärten Fürsten haben Die beschützt, deren gelehrte Arbeiten dem menschlichen Geiste zur Ehre gereichen. In unsren Tagen ist es so weit gekommen, daß eine Regierung in Europa, die die Ermunterung der Wissenschaften im geringsten verabsäumte, binnen kurzem um ein Jahrhundert hinter ihren Nachbarn zurückstehen würde; Polen liefert ein handgreifliches Beispiel dafür. Wir sehen eine große Kaiserin60-2 es sich zur Ehrensache machen, Kenntnisse in ihren weiten Staaten einzuführen und zu verbreiten. Alles, was dazu beitragen kann, wird von ihr als äußerst wichtig behandelt.

Wer fühlte sich nicht bewegt und gerührt, wenn er vernimmt, wie man in Schweden das Gedächtnis eines großen Mannes ehrt? Ein junger König, der den Wert der Wissenschaften kennt, läßt dort gegenwärtig Descartes ein Grabmal errichten, um im Namen seiner Vorgänger die Dankesschuld abzutragen, die sie seinen Talenten<61> schuldeten61-1. Welche süße Genugtuung ist es für die Minerva61-2 die diesem jungen Telemach das Leben geschenkt und ihn selbst unterrichtet hat, in ihm ihren Geist, ihre Kenntnisse und ihr Herz wiederzufinden! Mit Recht darf sie sich ihres Werkes freuen und sich selbst Beifall zollen. Ist es unserm Herzen auch nicht erlaubt, alles, was unser Gefühl uns im Hinblick auf sie einstößt, verschwenderisch auszuschütten, so wird es doch dieser und jeder existierenden Akademie erlaubt sein, ihr die aufrichtigsten Huldigungen darzubringen und sie dankerfüllt unter die kleine Zahl aufgeklärter Fürstinnen aufzunehmen, die die Wissenschaften geliebt und beschützt haben.


54-1 Die Abhandlung wurde am 27. Januar 1772 in der Berliner Akademie verlesen. Sie richtet sich gegen die bekannte, 1750 von der Akademie zu Dijon preisgekrönte Abhandlung von Jean Jacques Rousseau: „Le progrès des arts et des sciences a-t-il contribué à amélioer ou a corrompre les mœurs“

55-1 Jean Jacques Rousseau.

58-1 Toiricelli, vgl. Bd. II, S. 44.

58-2 Newton, vgl. Bd. II. S. 44.

58-3 Anspielung auf die 1682 von Bayle veröffentlichte Schrift über den großen Kometen von 1680.

59-1 Pro Archia poeta, Kap. 7.

60-1 Varro hat weder ein Gedicht über den Bürgerkrieg noch ein Werk „Origines“ verfaßt. Das letztere, heute verlorene Werk, stammt von Cato. Aber Varro war einer der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, insbesondere ein großer Altertumsforscher.

60-2 Katharina II. von Rußland.

61-1 Descartes war auf Einladung der Königin Christine 1649 nach Schweden gegangen, wo er 1650 starb, nachdem er noch einen Plan für die Stockholmer Akademie entworfen hatte.

61-2 Königin Ulrike von Schweden, die Schwester Friedrichs des Großen und Mutter König Gustavs III. Sie weilte seit Ende des Jahres 1771 zum Besuch am Berliner Hofe und wohnte der Akademiesitzung bei.