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Über die deutsche Literatur
Die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, ihre Ursachen und die Mittel zu ihrer Verbesserung (1780)1

Sie wundern sich, mein Herr, daß ich nicht in Ihren Beifall über die Fortschritte einstimme, die nach Ihrer Meinung die deutsche Literatur täglich macht. Ich liebe unser gemeinsames Vaterland ebensosehr wie Sie, und darum hüte ich mich wohl, es zu loben, bevor es Lob verdient. Das hieße ja einen Wettläufer mitten im Laufe als Sieger ausrufen. Ich warte, bis er sein Ziel erreicht hat. Dann wird mein Beifall ebenso aufrichtig wie wahr sein.

Wie Sie wissen, herrscht in der Gelehrtenrepublik Meinungsfreiheit. Sie haben Ihren Standpunkt und ich den meinen. Gestatten Sie also, daß ich Ihnen meine Denkweise und meine Ansichten über die alte und neue Literatur darlege, sowohl in Bezug auf die Sprache wie auf die Kenntnisse und den Geschmack.

Ich beginne mit Griechenland, als der Wiege der schönen Künste. Die Griechen besaßen die wohllautendste Sprache, die es je gegeben hat. Ihre ersten Theologen, ihre ersten Geschichtsschreiber waren Dichter. Sie gaben der Sprache glückliche Wem dungen, schufen eine Fülle malerischer Ausdrücke und lehrten ihre Nachfolger, sich mit Grazie, Höflichkeit und Anstand ausdrücken.

Von Athen gehe ich nach Rom. Dort finde ich eine Republik, die lange gegen ihre Nachbarn ringt, die um Ruhm und Herrschaft kämpft. Alles im römischen Staate war Nerv und Kraft. Erst nach der Niederwerfung seiner Nebenbuhlerin Karthago bekam Rom Geschmack für die Wissenschaften. Der große Africanus2, der Freund des Laelius und Polybios, war der erste Römer, der die Wissenschaften schirmte. Nach ihm kamen die Gracchen, dann Antonius und Crassus, zwei zu ihrer Zeit berühmte Redner. Kurz, die Sprache, der Stil, die römische Beredsamkeit gelangten zur Vollendung erst in der Zeit des Cicero und Hortensius und durch die Schöngeister, die das augusteische Zeitalter zierten.

Diese kurze Übersicht zeigt mir den Gang der Dinge. Ich bin überzeugt, daß ein Autor nicht gut zu schreiben vermag, wenn die Sprache, die er spricht, nicht geformt


1 Vgl. dazu die Einleitung und Anhang (Nr. 1).

2 Der jüngere Scipio.