<296> sind durch so viele Beweise in Ihrem Geiste verankert, daß ich umsonst versuchen würde, sie zu entwurzeln. Ihr Leben ist eine beständige Betrachtung; das meine stießt sanft dahin. Ich begnüge mich mit dem Genießen, überlasse das Nachdenken andren und bin zufrieden, wenn es mir gelingt, mich zu unterhalten und zu zerstreuen. Eben dadurch haben Sie soviel vor mir voraus, besonders bei der Erörterung schwieriger Fragen, die viele Gedankenverknüpfungen erfordern. Ich bin also darauf gefaßt, daß Sie mit Ihrem ganzen Rüstzeug gegen meine letzten Verschanzungen vorgehen werden. Ich sehe voraus, daß ich mein Unabhängigkeitssystem werde aufgeben müssen, in dem ich mich so bequem eingerichtet hatte. Ihre zwingenden Beweise werden mich nötigen, einen neuen Lebensplan zu entwerfen, der besser als der bisher von mir verfolgte den Pflichten meines Standes entspricht.

Allein es entstehen immerfort neue Zweifel in meinem Geiste. Sie sind der Arzt, dem ich die Leiden meiner Seele anvertraue; Ihr Amt ist es, sie zu heilen. Sie sprachen mir von einem Gesellschaftsvertrag; niemand hat mich davon unterrichtet. Wenn dieser Vertrag besieht, ich habe ihn nicht unterschrieben. Nach Ihrer Ansicht habe ich Pflichten gegen die Gesellschaft; ich weiß nichts davon. Ich soll eine Schuld abzutragen haben: an wen? An das Vaterland. Für welches Kapital? Ich ahne es nicht. Wer hat mir dies Kapital geliehen? Wann? Wo ist es? Indes gebe ich Ihnen zu, wenn alle Welt müßig ginge und nichts täte, müßte unser Geschlecht notwendig zugrunde gehen. Allein das ist nicht zu befürchten; denn die Not zwingt den Armen zur Arbeit, und es hat nichts weiter auf sich, wenn ein Reicher sich ihr entzieht. Nach Ihren Grundsätzen wäre in der Gesellschaft alles tätig, jeder handelte, jeder arbeitete. Ein solcher Staat gliche einem Bienenkorbe, wo jede Biene ihre Beschäftigung hat. Die eine gewinnt den Saft aus den Blumen, die andre knetet Wachs in den Zellen, eine dritte dient der Fortpflanzung der Art, und es gibt keine unsühnbare Sünde außer dem Müßiggang.

Sie sehen, ich gehe ehrlich zu Werke. Ich verhehle Ihnen nichts, ich gestehe Ihnen alle meine Zweifel. Es fällt mir schwer, mich so rasch von meinen Vorurteilen zu trennen, wenn es welche sind. Die Gewohnheit, die Tyrannin der Menschen, hat mir eine gewisse Lebensart beigebracht, an der ich hänge. Vielleicht müßte ich mich erst mit den neuen Ideen vertrauter machen, die Sie mir darlegen. Ich gestehe, mir widerstrebt es noch etwas, mich unter das Joch zu beugen, das Sie mir aufbürden wollen. Der Verzicht auf meine Ruhe, die Überwindung meiner Trägheit kostet mir schwere Anstrengungen. Die unaufhörliche Beschäftigung mit fremden Angelegenheiten, die Plackerei um das öffentliche Wohl schreckt mich ab. Aristides, Themistokles, Cicero und Regulus sind freilich Beispiele von Seelengröße und Hochherzigkeit, die die Welt anerkannt hat. Aber wieviel Mühe ist nötig, um ein wenig Ruhm zu erkaufen! Man erzählt, Alexander der Große habe nach einem seiner Siege ausgerufen: „O Athener, wenn Ihr wüßtet, was es kostet, von Euch gelobt zu werden!“1


1 Plutarch, Leben Alexanders, Kap. 60.