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Das himmlische Jerusalem
Ein Schwank für Voltaire
(1770)1

Und ich hatte Plato gelesen, und ich verstand nichts davon, und zur Kurzweil las ich einen Mathematiker, und ich sank in tiefen Schlaf, und ein Geist erschien mir und sprach zu mir: „Erhebe deine Seele!“ Und ich fragte ihn: „Habe ich eine?“ Und er antwortete: „Tu, als hättest du eine.“ Und ich erhob mich, und mich deuchte, Dinge zu sehen, die noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und kein Geist sich erdacht hat.

Als meine Verzückung wich, erblickte ich eine große Stadt. Die war, wie mich deuchte, mit Menschen bevölkert, die aus der Drachensaat des Kadmus entsprossen waren; denn sie verfolgten sich alle. Und ich fragte nach dem Namen der Stadt. Und sie antworteten mir, getauft ist sie Aon, aber eigentlich heißt sie die Verruchte2.

Und der Stoff, daraus sie gebaut war, glich mitnichten dem, daraus wir unsre Städte errichten. Und ich fragte den Geist: „Was ist das?“ Und der Irrwisch antwortete: „Die Grundmauern bestehen aus Hirngespinsten, der Kitt aus Wundern, diese Quadersteine stammen aus dem Steinbruch des Fegefeuers und jene glänzenderen aus den Ablässen.“ Ich, der ich nichts von diesem Kauderwelsch verstand, betrachtete den Bau der Stadt. Sie war befestigt, wie es im Altertum Brauch war, etwa so, wie man Babel darstellt. Ringsum liefen starke und hohe Mauern mit vorspringenden Türmen, die hießen: Turm der Dummheit, Turm der Vorurteile, Turm des Aberglaubens, Turm des Fanatismus und schließlich Turm des Teufels. Der sollte der größte sein.

Und ich fragte: „Wozu dient das alles?“ Und der Geist antwortete: „Das sind Sinnbilder.“ — „Und was sind Sinnbilder?“ fragte ich weiter. Der Kobold erwiderte: „Dinge, von denen du nichts verstehen kannst. Du bist in dem Lande, da die Einbildungskraft alles vermag, und es gibt einträgliche Einbildungen.“


1 Von dem König mit einem Schreiben vom 12. Dezember 1770 an Voltaire in Ferney übersandt.

2 L'Infâme, nach Voltaires Schlachtruf gegen die Kirche: „Écrasez l'infâme.“